Autogara-Catedrala

Im Osten Europas sind die besten Sehenswürdigkeiten nie ausgeschildert. Man muss sich also keine Mühe geben, Karten oder Reiseführer genau zu lesen. Die orthodoxen und katholischen Kathedralen lassen sich nicht übersehen, so mächtig und hoch ragen sie heraus, die evangelischen und unierten Kirchen, sachlich und kleiner, verstecken sich mitunter, man findet sie aber dennoch, wie Synagogen und Moscheen, falls es sie gibt, auf zufälligen Wegen.

Marktplätze ergeben sich von selbst, wie Rathäuser, Bronze-Statuen und Parks. Ein herrschaftliches Hotel, in dem die Staatshäupter und demimondes des 19. Jahrhunderts abstiegen, liegt immer an der Flaniermeile, und viel mehr führt so ein Reiseführer gar nicht auf.

Kirchen werden am ausführlichsten beschrieben. Das könnte durch die wichtige Rolle, die sie in diesem Teil Europas heute noch spielen, erklärt werden (in Rumänien lag die Anzahl von Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen, 2002 bei weniger als 0.1 Prozent), allerdings wenden sich die Reiseführer, also die deutschsprachigen, die ich habe, an eine westliche, deutsche Leserschaft, und da scheint die Dominanz der Kirchen ein wenig, ja, weltfremd. Es werden zwar weniger religiöse als architektonische Argumente aufgeführt, die allein Kirchen mehrere Seiten Text inklusive Skizzen einräumen, aber architektonisch interessant sind auch viele andere Bauten. Für alles, was ab dem 20. Jahrhundert, speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, gibt es seltsam blinde Flecke.

Um diese zu entdecken, empfiehlt es sich, ganz ohne Ziel und einfachen Alltagsbedürfnissen folgend, eine Stadt zu erkunden. Da die Moderne sich für alles interessierte (in einem anderen Maß gilt das auch für den Kommunismus) – Freizeit, Sport, Wohnen, Arbeit – kann man auch überall Entdeckungen machen: An Sportplätzen, Krankenhäusern, Fabriken und so weiter. Die Entdeckungen kommen auf einen zu, gerade wenn man nicht sucht. Das ist sehr praktisch. Man geht zum Beispiel zur Post und findet dort – einen Palast!

Das ist nur ein bisschen übertrieben. Die Post in Odessa, von außen unscheinbar, hat das Interieur eines fürstlichen Theatersaals, wenn man von den Fliesen und den Postschaltern absieht. Innenbalkone, Fresken, eine gemusterte Glasdecke und die schiere Größe geben dem Ort etwas Feierliches. Im Reiseführer fehlt jede Information über das Gebäude, wann es errichtet wurde, ob es einmal etwas anderes beherbergt hat als die Post oder tatsächlich für diesen Zweck erbaut wurde. In seiner pompös klassizistischen Ausstattung ist es jedenfalls eine herrliche Gegenversion zu den Amtsstuben, die Poststellen hierzulande sind. Das Herz der Stadt, schreibt ein Besucher auf Tripadvisor, und so war es vermutlich einmal. Das fühlt man noch, auch wenn nur vereinzelt alte Damen und Touristen es heute beleben.

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Eine weitere Entdeckung mache ich in Galați. Hinter dem Bahnhof befindet sich der Busbahnhof, von dem ich aus Odessa kommend weiter nach Bukarest fahre. Busbahnhöfe sind die hässlichen Stiefschwestern von Bahnhöfen. Sie werden hinter ihnen versteckt. Hinter den um Glanz bemühten Fassaden der Bahnhöfe liegen Busbahnhöfe wie Favelas, sich selbst überlassene Ansammlungen von Kioskbuden, stinkenden Wartehallen und Toiletten. Orte für die Armen. Wer sonst würde sich dort aufhalten? Die Ober- und Mittelschicht fährt Auto, und so sind es Alte, Betrunkene, abgerissene Gestalten, die dort stehen, ein paar Jugendliche dazwischen.

Nur in Galați ist das anders. Galați, in dem sich nicht viel mehr entdecken ließ als die Monokultur der Wohnblocks, wartet bei der Abfahrt mit einer Überraschung auf. Hinter dem Bahnhof erhebt sich ein futuristisches Ding, das ich erst nach Einholen geometrischer Begriffen so beschreiben kann: Ein parabolisch in sich verschachtelter Zylinder, der von weitem aussieht wie ein zum Sprung ansetzender Grashüpfer.

Innen dagegen, das ist die nächste Überraschung, ist es wie in einer Kapelle, hoch und weit. Licht strömt durch die Fensterfront und malt Muster auf den Boden, mit einer Kraft, die mir so nur einmal im Pantheon in Rom vorkam. Heilig. Ich stehe inmitten des Lichtkegels, um sieben Uhr früh, allein am schönsten Busbahnhof Europas.

Die Decke ist ein großes Facettenauge. An einigen Fenstern sind Kreuze zu sehen, so dass ich denke, dies könnte tatsächlich ein sakraler Bau gewesen sein, der, das geschah ja häufig im Kommunismus, umgewidmet wurde. Paläste wurden zu Sanatorien, Kirchen zu Turnhallen – vielleicht auch zu Busbahnhöfen. Es ist mir in dem Moment nicht klar, was es sein soll: Eine Verhöhnung des Religiösen? Oder der Versuch, einen profanen Ort aufzuwerten? Also eine Art Kathedralisierung des Alltags?

Die Geschichte des Busbahnhofs in Galati lässt sich leicht erforschen: Er wurde 1970 gebaut, in der sogenannten Goldenen Epoche der Ceaușescu-Jahre. In Anwesenheit lokaler Persönlichkeiten feierlich eröffnet, sollte er „durch die Schönheit seiner außergewöhnlichen Architektur in vollster Weise den Wunsch nach Entwicklung des Autobus-Reiseverkehrs befriedigen“. Bis zu 3000 Reisende sollte der Bahnhof pro Tag bewältigen können, in den Hochzeiten 500 pro Stunde. Hier am Busbahnhof begann man den täglichen Weg zur Arbeit oder traf aus den umliegenden Ortschaften ein, um weiter zum Hafen oder in die Fabriken von Galați zu fahren. Und hier sammelte man sich abends und wartete, gemeinsam nach Hause zu fahren. Der Busbahnhof war ein wichtiger Ort. Nicht nur als Symbol der mobilen Arbeiterschaft, auch für die Menschen selbst.

Was immer man davon hält, die Bedeutung ist noch heute zu spüren. Und der Busbahnhof ein Denkmal, das verdient, erhalten und beschaut zu werden. Leider zählt es offiziell nicht zum Kulturerbe und hat eine schlechte Lobby in Rumänien. Ein ähnlicher Busbahnhof, der ebenfalls 1970 in Focșani gebaut wurde, wurde 2010 abgerissen. Das Gelände, zunächst von einem ehemaligen Buchhalter der kommunistischen Transportgesellschaft I.T.A. erworben, wurde an LIDL & Schwarz veräußert, das den Bahnhof abräumen ließ, um einen Supermarkt zu bauen. Der Busbahnhof Focșani, auf dem Altar des Kommunismus kapitalistischen Interessen geopfert, heißt es in einem Artikel.

Ich kann Reisenden nur den Rat geben: Besucht weniger Kirchen und mehr Busbahnhöfe.

Und geht nicht zu LIDL!

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Historische Ansicht aus: Autogara Metropoli – http://autogarametropoli.ro/

Über Julia Jürgens

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