Ernst

Vitjas Rumänisch hat einen russischen Akzent und andere Ausdrücke, er sagt zum Beispiel două ceausuri statt două ore und problem statt problemă. Wir stehen vor der EU-Grenze in einer langen Schlange, am Zoll ist Schichtwechsel. Die Laster stehen dort wie ein Aufgebot, leicht versetzt in einer geraden Linie, hunderte von Metern. Sie stehen vor einer Schranke, die filigran und machtvoll ist wie ein Mann im Frack vor Elefanten in einer Manege. Die Fahrer lehnen an ihren Fahrzeugen, rauchen und lachen über die langsam umherlaufenden Zollbeamten, die sie warten lassen. Sie kennen die Kraft ihrer Fahrzeuge und es scheint, sie stehen dort aus reiner Überlegenheit und nicht aus Gehorsam.

Vitja hat in Shumen Plastik geladen und ist auf dem Weg nach Galați. Er hat kurz wissen wollen, was in meinem Koffer ist, der groß und schwer ist, droguri?, und ihn dann lachend hochgezogen, in die Schlafkoje hinter den Sitzen. Der Koffer war ein Problem, so kurz vor der Grenze in die EU, wer möchte schon Schwierigkeiten bei der Einreise. Ich konnte jeden verstehen, der abwinkte, alle PKW-Fahrer. An die LKWs traute ich mich erst nicht heran. Autofahrer sind Leute wie du und ich, aber Fernfahrer sind wie Cowboys, mythische Gestalten. Nomaden, einsam und unruhig. Sie treiben über Land wie Matrosen über See, sehnsüchtig, gefährlich.

Man wurde schon als Kind vor ihnen gewarnt, was sie so interessant gemacht hat, interessanter als Lokführer oder Piloten, die auch weite Strecken zurücklegen. Fernfahrer kommen einem immer noch unabhängiger vor, auch wenn sie sich ihre Routen genauso wenig aussuchen und wahrscheinlich so enge Zeitpläne haben wie Paketzusteller. Aber das ist egal, es geht um das Fahren, das einsame Fahren auf nächtlichen Straßen, die Weite stumm durchmessend.

Das Einsteigen in einen Truck ist schon glorios, wie man sich emporschwingt auf zwei oder drei Meter Höhe. Man hat es in Roadmovies so oft gesehen, dass es schwer ist, sich dabei real zu fühlen. Und aus einem Grund, der nicht zwingend logisch ist, macht das Gefühl, in einem Film zu sein, besonders lebendig. Das ist eigentlich merkwürdig. Man könnte sich auch weniger authentisch fühlen, weil der Film das Leben nur nachspielt. Stattdessen ist es das Gegenteil, das Banale verschwindet, das Licht und die Dialoge werden besser,  so scheint es zumindest, man kann es nicht nachprüfen, denn diesen Film bekommt man ja nie zu sehen.

Vitja fährt meist nach Bulgarien, Russland, Weißrussland und in die Ukraine, seltener nach Italien und Frankreich. Am liebsten nach Weißrussland, er mag die Weißrussen, die Russen überhaupt. Die Rumänen mag er nicht, obwohl sie ihm nie etwas getan haben. Er kommt aus Moldova. Würde Moldova heute lieber zu Rumänien gehören, also zur EU, frage ich und Vitja sagt, die Jüngeren wollen, die Älteren nicht. Was sollen wir mit der EU, Konzerne ins Land lassen? Arbeitslosigkeit haben wir jetzt schon. An Auswandern hat er nie gedacht, Moldova ist seine Heimat, er hat ein Haus, zwei Kinder, geht zur Jagd, zum Fischen. Er zeigt mir riesige Einweckgläser mit Wildschwein, die er in einem Fach über den hinteren Reifen lagert und dazu die Fotos von den erlegten Tieren auf seinem Smartphone.

Vitja kennt alle Zollbeamten beim Vornamen, ich darf deshalb ihre Toilette benutzen und in ihre Büros schauen, in denen sie vor kleinen Bildschirmen sitzen und Kaffee trinken. Die Rumänen arbeiten nicht gern, sie delegieren die Arbeit lieber, sagt Vitja. Die neue Schicht sollte eigentlich um acht ihren Dienst beginnen, um neun passiert immer noch nichts. Das ist immer so, sagt er. Seit sie zur EU gehören, fühlen sie sich als etwas Besseres.

Ich frage Vitja nach den Russen und Putin, aber er möchte lieber über Ernst reden. Ernst ist Vitjas Schwager. Er ist Österreicher und lebt in Wien, mit Vitjas Schwester. Sie hat ihn an einer Tankstelle kennengelernt, nachdem ihre Mutter, die in Wien als Putzfrau arbeitete (Putzfrau sagt Vitja auf Deutsch), sie nachgeholt hat. Ernst arbeitet an der Tankstelle. Errrnst, sagt Vitja, und fasst ihn in einer anderen Tonlage, wie mit spitzen Fingern. Als ich ihm sage, was Ernst bedeutet, serios, findet er das passend. Ihr Deutschen (darunter fasst er auch die Österreicher), ihr scherzt nicht, nie, sagt Vitja, ihr nehmt alles ernst. Er macht ein ernstes Gesicht für ein paar Sekunden, dann lacht er schallend.

Ernst war zweimal in Moldova, das erste Mal fuhr er in ein Schlagloch, die Felge oder irgendetwas am Reifen war kaputt, und Ernst hatte kein Werkzeug im Auto, obwohl er an einer Tankstelle arbeitet, nicht mal einen Ersatzreifen. Wenn Ernsts Auto kaputt ist, ruft er eine Nummer an, und das Auto wird abgeholt, egal wo, sagt Vitja. Das zweite Mal stellte Ernst den Wagen vor Vitjas Haus ab, unabgeschlossen, so wie er es in Wien macht, auch sein Haus schließt Ernst nicht ab. Das Auto wurde geklaut und an der französischen Grenze identifiziert, Ernst musste es dort abholen. Vitjas Schwester hat ihm dafür eine Tracht Prügel verpasst. Wirklich geschlagen, frage ich, wohin denn? Moldavische Frauen sind so, sagt Vitja, und lacht. Auf den Kopf natürlich.

Ernst ist eine Witzfigur, wie bei uns die Ostfriesen, denke ich, es gibt wahrscheinlich hunderte von Witzen in Moldova, über Österreicher und Deutsche. Über ihre Kleingeistigkeit, Naivität und Unfähigkeit in praktischen Dingen, mit der sie im Osten ständig auf die Fresse fliegen. Săracul Ernst, sage ich, armer Ernst und Vitja kann sich nicht halten vor Lachen.

Er selbst war schon vier oder fünf Mal in Wien, für jeweils zehn Tage. Es war langweilig. Angeln darf man nicht, einmal kam die Polizei und hat ihn verwarnt. Ein anderes Mal wollte er Borschtsch kochen, für die ganze Familie, und ist in einen Supermarkt gegangen, um Rotkohl zu kaufen. Er hat keinen gefunden, nur tiefgefroren, la pachet. Bei uns liegt der Rotkohl so im Geschäft, wie er aus der Erde kommt, sagt Vitja, riesige Kohlköpfe, normal. Was ist das, Rotkohl in kleinen Eiswürfeln, was macht ihr damit? Für Borschtsch braucht man einen ganzen Kohl, sagt Vitja, und wer weiß denn, wie viele tiefgefrorene Pakete ein Rotkohl sind.

Mittlerweile sind wir x-mal ausgestiegen, haben Kaffee getrunken, fast drei Stunden lang. An der Grenze passiert nichts, nur das Licht verändert sich, die Sonne geht unter. Polizisten und Zollbeamte gehen hin und her und sortieren sich in langsam steigender Spannung, wie vor einem Match, das nie losgeht, immer ist nur eine Mannschaft da. Erst steht die Polizei bereit, aber der Zoll nicht, dann sitzen die Zollbeamten in ihren Häuschen, aber die Polizei fehlt. Es wirkt lustlos, niemand will beginnen. Vine poliția, pleacă vama, vine vama, pleacă poliția, sagt Vitja, das ist das Spiel. (Kommt die Polizei, geht der Zoll, kommt der Zoll, geht die Polizei).

Dann endlich geht die Schranke hoch und Vitja reicht dem Polizisten seinen Pass. Darauf habe ich gewartet. Ich stehe neben der Fahrertür und sehe, wie der Polizist den Pass durchblättert, bis zu der Seite, hinter der es sich wölbt. Er stoppt, automatisch, und wendet sich ab. Er nimmt die drei Euro heraus, die dort immer bereitliegen, bei jedem Grenzübergang, nach Rumänien, Moldova, Russland, Weissrussland, in die Ukraine, der Tarif ist immer ungefähr gleich, sagt Vitja. Nur in Frankreich ist er einmal festgenommen worden, wegen Bestechung, aber ich frage mich, wie er dort drei Euro in seinen Pass hat stecken können, in Münzen? Der Polizist gibt Vitja seinen Pass zurück, dann fahren wir zum nächsten Häuschen, wo es eine Menge Papiere auszufüllen und zu zeigen gibt, und dann sind wir in der EU, in Rumänien.

Jetzt fahren wir. Der Mittelstreifen, der im Roadmovie unbedingt zu sehen sein muss, wie er sich in der Geschwindigkeit zu einem langen weißen Band ausrollt, ist in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Vitja fährt schnell, und der Laster scheint von selbst noch an Fahrt aufzunehmen. Nach einer Kurve tauchen zwei Gestalten am rechten Straßenrand auf und Vitja gibt Gas und flucht, verdammte Zigeuner. Entschuldigung, Indiennes, sagt er, so nennt man sie ja heute. Um einen überfahrenen Fuchs, dessen Innereien in der Dunkelheit farbig leuchten, macht er dagegen einen Schlenker, und erzählt von dem Schäferhund, den er zu Hause hat, der beißt, auf Zuruf. Das Fahren, das lange Warten vorher oder die Nacht setzen Gedanken aus der Tiefe frei, die wüst hervorkommen. Es sind Gedanken, die nachts und auch tagsüber in Kneipen tausendfach ausgesprochen werden, in Russland, Weißrussland, Österreich, Deutschland und überall sonst in Europa.

Es ist gar kein Film. Es ist der ganz normale Alltag. Und als ich denke, das ist doch eine gute Erkenntnis der Geschichte, sehr interessant, wird es gefährlich. Der Laster hat gehalten, der Motor ist aus, in einer Gegend in Galați, die verlassen aussieht, Industriegebiet wahrscheinlich. Vitja sagt, das ist ein guter Platz zum Schlafen. Aber zu gefährlich, um auszusteigen, deshalb soll ich dableiben. So kann jetzt die Geschichte natürlich nicht ausgehen, die Angst davor schnürt mir die Kehle zu. Mehr Wut, Wut, darüber, dass sich ein so elendes Klischee in diese Geschichte drängt und in mein Leben, was ein und dieselbe Sache ist, das spüre ich jetzt. Erschütternd, wenn die Warner recht behalten, die doch niemals etwas aus Erfahrung wissen, sondern nur aus Angst. Das ist die falsche Geschichte. Ich weiß nicht, wie ich aus ihr herauskommen und sie beenden soll, sicher nicht mit einer Moral.

Es ist aber nicht so, dass Vitja mit Zentralverriegelung die Knöpfchen nach unten fahren lässt, wie ich es vor mir sehe. Er sagt einfach, ich soll dableiben und nicht aussteigen, weil es zu gefährlich ist. Und nachdem ich eine Weile still dagesessen habe, öffne ich die Tür und lasse mich nach unten gleiten. Und Vitja reicht mir meinen Koffer und den Rucksack und die Kamera und ich gehe die einsame, dunkle Straße hinunter, und als vom Lärm des Rollkoffers die Hunde erwachen, die unter den Sitzen einer ehemaligen Bushaltestelle geschlafen haben und laut bellend auf mich zuspringen, hebt Vitja, zu dem ich mich erschrocken umdrehe, hinter der Windschutzscheibe die Hand, wie um mich durchzuwinken. Einfach weitergehen.

Über Julia Jürgens

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