Phänomene

Auf jeder Reise gibt es etwas, das man immer als erstes sieht, überall. Das Auge sucht es nicht bewusst, es springt ihm, wie man sagt, hinein. Man kann, nachdem man es das erste Mal gesehen hat, nicht mehr sagen, ob es, da man es weiterhin sieht, besonders hervorsticht, oder ob das Auge es aus einer Art Wiedersehensfreude immer wieder in den Blick nimmt. Auf dieser Reise waren es Menschen in Fenstern, die sich herauslehnen oder hinter der Scheibe zu sehen sind. Alle Menschen, die sich aus Fenstern herauslehnten oder hinter Scheiben standen, schienen mir besonders. Vielleicht lag es an den alten Fenstern oder an der Patina der pastellfarbenen Fassaden von Sibiu, die die Menschen und ihre Gesichter wie Gemälde umrahmen .

Davor hatte ich Hunde gesehen, eine ganze Weile auf allen Reisen immer zuerst Hunde. Hunde, die zusammengerollt auf Bahnsteigen schliefen oder müde an Straßen entlangliefen. Hunde, die mit geducktem Kopf über Marktplätze schlichen. Wenn ich mich versuche, an einen Ort zu erinnern, fällt mir als erstes der Hund ein, den ich dort gesehen habe. Der Hund in Žabljak, der uns um den Schwarzen See herum folgte und dessen Magen beim Laufen gluckste. Der Hund in Belgrad auf der grünen Verkehrsinsel, der immer im Kreis lief, weil es unmöglich war, den vierspurigen Kreisverkehr zu überwinden. Der sterbende Hund in Ulcinj, der sich unter einem SUV verkrochen hatte, der Hund im Aquarium in einem Zoogeschäft nachts in Tirana.

Denke ich an Sibiu, sehe ich ein Rudel vor mir, das immer gemeinsam durch die Unterstadt zog wie eine Bande wilder Teenager. Erst mit den Hunden entsteht die Landschaft oder die Stadt in meiner Erinnerung, wie eine Foto-Leinwand entrollt sie sich in dem Moment, in dem mir der Hund einfällt.

Das Auge ist einseitig. Wie ein Fotograf, der an einer Serie arbeitet, sucht es sich Bilder, die zu den schon gesehenen passen. Man hat deshalb oft den Eindruck, unter den gesammelten Bildern ein Phänomen zu erkennen, das für den Ort, an dem man sich befindet, prägend ist. Es ist aber nur eines unter vielen Dingen, die man dort wahrnehmen kann. Die Auswahl ist willkürlich. Das Phänomen prägt zuallererst das Auge und muss mit dem Ort gar nicht viel zu tun haben. Schon immer haben Menschen in Sibiu an Fenstern gestanden oder sich hinausgelehnt, so wie allerorten Menschen an Fenstern stehen und sich hinauslehnen. Aber ich sah sie erst jetzt, in jeder Straße, wie ein Wahrzeichen der Stadt. Doch was für ein Wahrzeichen ist das, das in jeder anderen Stadt auch zu sehen ist?

In Zügen sehe ich immer ältere Männer in Anzügen und Hüten, mit Plastiktüten in der Hand. Oft haben sie spitze Schuhe und manchmal Schnurrbärte. Die Anzüge sind immer verschlissen und haben einen matten Glanz auf den Hosen. Nur im Hintergrund, verschwommen, die jüngeren Männer, in T-shirts und dunklen Jeans mit groben weißen Nähten.

Auf der letzten Reise, im Zug von Sibiu nach Sarata, sah ich die T-shirts klar. Es war sehr heiß, der Zug kroch im Schritttempo auf den von der Hitze verzogenen Schienen. Die Menschen fuhren von der Stadt zurück auf die Dörfer. Durch die Scheiben, die alle Sprünge hatten, sah man auf der einen Seite die Berge, auf der anderen sonnenverbrannte Felder. Die T-shirts der Männer und Frauen hatten Aufschriften: World Down Syndrome Day, Red Hill The Sunset Creek Inc., Summer Mountain, Extreme Bike, Duffy, 1899, Everyone says I’m good, I don’t love you, NYC. Ich hätte jedes gern fotografiert. In der Langsamkeit des Zuges, in der, von den Rissen im Glas in Stücke zerlegt, die Felder, Berge und Wolken vorbeizogen, erschienen sie mir für einen Moment als der wahrhaftigst mögliche Ausdruck dieses Landes und vielleicht eines Reiseberichts an sich.

Reiseberichte als eine Aneinanderreihung der T-shirt-Aufdrucke, die einem begegnen. Das könnte interessant sein, dachte ich.

kind

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mann_hut

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Über Julia Jürgens

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