Den tapferen Urlaubssoldaten

Auf der Promenade vor mir laufen ein kleiner weißer Pudel, ein Mann in grüner Windjacke und eine Frau in roter Windjacke. Der Pudel läuft zielstrebig, oder er tut so. Anders als der Mann und der Frau. Auf der Anhöhe vor der Seebrücke bleiben sie stehen. Links ein paar Buden, rechts eine Schneise durch die Dünen zum Meer. Alle paar hundert Meter eine Imbissbucht. Die Fischbrötchen sind überall dieselben, Bismarck, Matjes, Seelachs, Backfisch. Man könnte hier schon was essen oder auch später. Es ist egal. Es muss nur entschieden werden. Der Hund zieht weiter, der Mann und die Frau folgen, ich auch.

Eine ganze Armee von Menschen ist unterwegs, an der Steilküste und unten am Strand. Auf dem Weg von Koserow nach Zinnowitz und die Seebrücke von Koserow rauf und runter. Nur auf Promenaden gehen Menschen so. Heben die Füße, verlagern das Gewicht, wenn es der rechte Fuß ist, nach links, ein bisschen weiter als sonst und tauschen dann die Seiten. Wie eine Pantomime vom Spazierengehen. So gehen Alte und Junge auf allen mir bekannten Seepromenaden dieser Welt.

Urlaub sieht tapsig aus. Wie soll das auch in Würde gehen, vor allem, wenn es kalt ist? In Windjacken und Trekkinghosen in Dreiviertellänge. Für Männer scheint das noch schwieriger als für Frauen. In diesen Hosen mit den Taschen an den Seiten, die leer sind und flach anliegen, weil nichts darin ist, außer einem Taschentuch vielleicht – jedenfalls kein Taschenmesser und kein Werkzeug, wofür die Taschen gemacht sind – und das lässt sie so hilflos aussehen.

Und das Gehen. Dieses Gehen auf freier Strecke, die keinen Höhepunkt hat wie ein Berg, auf dem man irgendwann ankommt. Die immer weiterläuft, scheinbar ins Unendliche. Und so laufen sie weiter, die Spaziergänger, und haben den Ausdruck von streunenden Hunden im Gesicht, diese Mischung aus Tapferkeit und Unbehagen. Die Hunde in Rumänien, die mich damit immer so rühren: Wie sie den Anschein eines autonomen und unbekümmerten Vorwärtstrabens wahren, während sie doch gequält davon sind, allein durch die Straßen laufen, ganz entgegen ihrer Bestimmung.

Nicht zu wissen, wohin man läuft, wäre hier aber völlig ok. Für den Zweck, für den die Menschen auf Usedom sind: Entspannung. Urlaub.

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Eigentlich ist es ja eher ein Auftrag: AUFTRAG URLAUB.

Einer der schwersten, den ein arbeitender Mensch zu erfüllen hat, möglicherweise. Zwei bis drei Wochen, ohne jede Vorgabe. Ohne Zeitfenster und Feedback. Ohne Struktur, außer Frühstück, Mittag, Abendessen und Schlafen. Dazwischen ist Initiative gefordert. Ein Wille. Wünsche. Impulse.

Man ist komplett auf sich angewiesen. Auf die eigene Stimme, die etwas sagt, irgendeinen Satz, der beginnt mit: Ich will. Egal was. Zeitung lesen, Seeluft riechen, schlafen, nur im Strandkorb sitzen, doch mal wieder Sex haben, vor dem Fernseher sitzen. Wäre alles ok. Wenn Urlaub nicht noch den Anspruch hätte, erlebnisreich zu sein. Die schönste Zeit des Jahres.

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Früher war das so. Früher gab es am Anfang der Ferien einen Kescher und einen Spaten. Damit haben wir Seesterne und Krebse gesammelt und Burgen gebaut. Am Ende ließen wir alles dort, die getrockneten Seesterne auf dem Balkon. Es gab Pferde, auf der Wiese gegenüber der Kurmuschel, eins hieß Juri. Nicht jeden Tag, aber manchmal durfte ich drei Runden auf ihm reiten.

In Urlaub gefahren bin ich zuletzt als Kind. Seit ich erwachsen bin, reise ich. Da passiert auf andere Weise etwas, automatisch. Dieses Jahr habe ich mich aber nach Urlaub gesehnt. Stationär, so wie ich früher mit meiner Familie Urlaub gemacht habe, in Pelzerhaken, am Meer. Jeden Tag an den Strand. Lesen, essen, schlafen. Mehr nicht.

Deshalb bin ich hier, auf Usedom. Ich habe viel Zeit. Genug, um mich zu fragen, ob ich sie richtig nutze. Beim Reisen frage ich mich das nie. Erhole ich mich? Tue ich die richtigen Dinge, um mich zu erholen? Könnte ich noch mehr tun? Die Ostsee macht einem das nicht leicht. Es regnet, bei 19 Grad. Am zweiten Tag wünsche ich mich weit weg. An einen anderen Strand, in ein anderes Leben.

Das geht auch anderen so. In Koserow, diesem spröden kleinen Ort an der schmalsten Stelle Usedoms, deuten Bars darauf hin: Die Costa-Rica-Snackbar. Die Tapas-Bar. Eigentlich fährt man doch aber an die Ostsee, weil man Ostsee will. Strandkorb, Möwen, Scholle mit Bratkartoffeln. Die Ostsee soll sich nicht schämen müssen. Auch die im Osten nicht.

Aber die, die sie und die Insel als Urlaubsort verwalten, trauen ihr nichts zu. Ihr nicht und den Urlaubern nicht, die hierherkommen. Sie bieten ihnen Dinge, die mit Ostsee wenig zu tun haben. Wenn aber schon die Insel versucht, eine andere zu sein, wie sollte sich das nicht auf die Touristen übertragen? Zum Beispiel:

Am Ende der Seebrücke in Zinnowitz ist eine riesige Tauchglocke, die aussieht wie eine umgestülpte Tasse. Einmal stündlich fährt sie wie ein Fahrstuhl nach unten, bis einen Meter über dem Meeresboden. Vor den Schiffsluken wird es langsam grün, ein kleiner Kick stellt sich ein. Vor dem Fenster gleitet eine Qualle vorbei. Kaum erkennbar in diesem irren Grün, wird sie flach und wieder rund wie ein Fallschirm. Zart schimmern ihre rosa Gefäße, die sie als Mann ausweisen, wie der Tauch-Instructor erzählt. Wunderschön. Dann werden 3-D-Brillen ausgeteilt. Der Instructor lässt die Jalousien runter, es wird dunkel. Vorn beginnt ein Film über Meerestiere. Bitte die Brillen aufsetzen. Jetzt sind nur noch Robben zu sehen, in 3D, die „größten lebenden Raubtiere Deutschlands“.

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Den Menschen wird nichts zugetraut, den Tieren auch nicht. Das zeigt auch der Tropen-Zoo in Bansin mit Papageien und Makaken. Ein noch traurigerer Fall ist das Wildlife Usedom in Trassenheide. Im Industriegebiet, neben einer Fabrik für Frischbeton. Hier, in einer alten Lagerhalle, sind die Tiere sogar ausgestopft. Tote Tiere in Lebensgröße, seltsam arrangiert: Ein Eisbär neben einem Moschusochsen, ein Timberwolf neben Füchsen, ein Dachs und ein Vielfraß (den gibt es tatsächlich, das habe ich hier gelernt). Der Dachshund taucht gleich mehrmals auf. Kennst Du mich? steht auf ausgedruckten Papierschildern an der Brüstung vor den Tieren. Da sind „Rehe mit Kitze“ und Glasaugen. Und, irgendwo hinter Glas, eine traurige Boa constrictor, die ist echt, so wie drei auf dem Bauch liegende Kaninchen und aufgeregt hin und herwuselnde chinesische Zwergwachteln (die haben keine Flügel) und ein paar Ziegen hinter dem Haus.

In Ahlbeck gibt es noch die Die Armee der Tonkrieger zu sehen, überlebensgroße Figuren aus China, und in Trassenheide ein Wachsfiguren-Kabinett und die größte Schmetterlingsfarm Europas.

Vielleicht noch ein alter Ost-Reflex: Wenn ich nicht in die Welt komme, hole ich die Welt zu mir?

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Dabei ist die kleine Welt von Koserow schon groß genug. Steilküsten, Wälder, Salzhütten, von denen noch einige in Urform erhalten sind. Und das Atelier des Malers Otto Niemeyer-Holstein. Der lebte hier in einem ausrangierten S-Bahn-Wagen aus Berlin und malte die Buhnen, das Meer, Bäume, in allen Jahreszeiten. In einem Video, das im Ausstellungsraum in Endlosschleife läuft, geht der alte Niemeyer den vereisten Deich entlang, bis zum Meer. Beim Laufen erzählt er, wie ihm alles belebt vorkommt, die Natur, die in Eis gefrorenen Äste und Halme. Die Steine hier, das sind meine Kinder und die da vorne meine Enkel. Ich kenne die seit Jahren. Das ist doch alles nicht tot. Jeden Tag sieht es ganz anders aus, ne.

Ja, übertrieben vielleicht. Aber er hat sich das alles genau angeguckt, viele Jahre lang, und er hatte seine Aufgabe. Allerdings war er hier auch nicht im Urlaub, er lebte hier.

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Sprachgeschichtlich geht der Begriff Urlaub auf das althochdeutsche Substantiv urloup zurück, das zunächst ganz allgemein Erlaubnis bedeutete. Ritter zum Beispiel fragten um Erlaubnis an, wegzugehen. Nicht in Urlaub, nur an einen anderen Hof.

Später wandelte sich die Bedeutung: Urlaub wurde als „offizielle vorübergehende Freistellung von einem Dienstverhältnis“ verstanden, als „dienst- oder arbeitsfreie Tage, die der Erholung dienen“. Urlaub, wie wir ihn kennen, als Massenphänomen, gab es natürlich erst, als Arbeit ein Massenphänomen wurde, losgelöst von Hof und Grund, in Fabriken und Büros verlagert. Urlaub wurde zur Pflicht. Um die man um Erlaubnis fragen musste. Absurd.

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Weil ich gerade freischaffend bin, muss ich niemanden um Erlaubnis fragen. Ich darf einfach so Urlaub machen. Vielleicht unterscheidet mich das von den anderen Urlaubern hier, die noch so aussehen, als seien sie gesammelt zur Sommerfrische geschickt, von der Brigade Bergbau Erzgebirge oder so. Für sie mag Urlaub noch ein Gegensatz zu der Arbeit sein, die sie verrichten. Anders als bei mir, wo Urlaub nur mehr eine Steigerung der Anforderung ist, die die Arbeit täglich an mich stellt (pardon, mein Sabbatical, aber da ist es noch viel dringlicher): Innerer Antrieb! Eigeninitiative! Urlaub ist so und so nicht leicht.

Und so laufen wir hier also. Also, ich sitze im Strandkorb. Von hier sehe ich sie vorbeiziehen, die Steilküste hoch. Stoisch laufen sie voran, einen Fuß vor den anderen. In Gruppen, zu zweit, allein. „Müde und leer“, schreibt der Soziologe Alain Ehrenberg, „unruhig und heftig, kurz gesagt neurotisch wiegen wir in unseren Körpern das Gewicht der Souveränität. Das ist die entscheidende Verschiebung der schweren Aufgabe, die nach Freud das Schicksal des Zivilisierten ist.“ So lese ich und sehe sie laufen, im Regen. Bis nach Zinnowitz und weiter. In ihrer Uniform, bereit ihren Auftrag zu erfüllen, gegen alle Lächerlichkeit. Ich laufe mit ihnen. Oh Ihr tapferen Urlaubssoldaten.

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Über Julia Jürgens

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Eine Antwort zu Den tapferen Urlaubssoldaten

  1. T schreibt:

    Das Känguru schaut so ängstlich, wie von den Blicken gequält….

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