Ich wollte immer eine Ode an die alten Männer vom Balkan schreiben

In der Altstadt von Bukarest folgte mir vor ein paar Jahren ein Mann, der sofort als Italiener zu erkennen war. Er hatte dieses leicht aufgedunsene Mario-Adorf-Gesicht, etwas zwischen Schelm und Ganove. Große Nase, kleine Augen, dichtes weißes Haar. Ich sah ihn schon von weitem. Er trug ein weit aufgeknöpftes, hellrosa Hemd, himmelblaue Hosen und Lederslipper. Mit traurigem, dabei flirtiv verhangenem Blick schaute er den Fußgängern entgegen. Sicher war er jahrzehntelang ein Frauenheld gewesen. Er sah immer noch gut aus. Er sah auch immer noch wie ein Frauenheld aus, aber mehr wie jemand, der einen Frauenheld darstellt und zwar den, der er selbst einmal war.

So wie Sylvester Stallone in Rocky Balboa. Rocky Balboa ist 60 Jahre alt, sein erster großer Kampf liegt dreißig Jahre zurück. Auch Sylvester Stallone ist 60 Jahre alt. Sein Film Rocky I, der diesen Kampf zeigt, ist vor dreißig Jahren im Kino gelaufen. Und Sylvester Stallone als Rocky Balboa schaut jetzt diesen Film. Man sieht seinen schwer gewordenen Körper vor dem Fernseher sitzen, in dem er als junger, agiler Boxer zu sehen ist, der auf seinen Gegner eindrischt. Sylvester Stallone mutet sich diesen Vergleich zu und dem Zuschauer auch, der sich dabei fragen muss, wie er sich, seit er Rocky I gesehen hat, selbst verändert hat. Ich schaue also auf mich und meinen ebenfalls schwerer gewordenen Körper vor dem Bildschirm, auf dem der alte Sylvester Stallone eine jüngere Version seiner selbst kämpfen sieht. Dann steigt er selbst ein letztes Mal in den Ring, Sylvester Stallone alias Rocky Balboa, und kämpft – gegen sich selbst natürlich. Alt gegen jung. Der Kampf, den wir alle kämpfen, nicht ganz so offensichtlich vielleicht.

Im Film gelingt dieser Shift, wenn man die früheren Filme und Versionen von Rocky kennt. Von dem Italiener, den ich in der Fußgängerzone in Bukarest sah, kannte ich nur die aktuelle Version. Und trotzdem sah ich beim Näherkommen diese unterschiedlich alten Bilder von ihm aufsteigen. Enzo I, Enzo II, Enzo III und so weiter – er hieß Enzo, wie sich später herausstellte. Wie ein Daumenkino blätterten sich die Bilder auf, deshalb schaute ich mich nach ihm um, und er stand von der Bank auf, auf der er gesessen hatte und folgte mir.

Bei südeuropäischen Männern kann man den Prozess manchmal sehen, der bei den meisten Menschen rein innerlich abläuft: Wie das Alter das jugendliche Selbstbild aus den Angeln hebt. Sie tragen das offen zur Schau. Eine ganze Weile, manchmal bis sie Greise sind, sieht man in ihnen Jugend und Alter wie Licht und Schatten bei einer Mondfinsternis. Langsam verschwindet das eine im anderen. Aber bis dahin ist beides zu sehen: Wie sie einmal waren und und wie sie heute aussehen.

Beides zu zeigen ist nicht selbstverständlich. In unserer Kultur findet man das schnell lächerlich. „Sich jünger machen“, sagt man und meint das abwertend. Deutsche Männer und Frauen machen sich lieber alt. Ab 60 oder spätestens 70 kleiden sie sich, als sei jede Anmutung an Geschlecht, Farbe und Lebensfreude irgendwie pervers.

Andersherum gibt es die Berufsjugendlichen, die das Alter komplett ignorieren. Alt zu werden ist für sie so schmerzlich wie für die Alten, jung gewesen zu sein. Beides zu sein, jung und alt, scheint irgendwie nicht möglich. Ich habe es bis auf wenige Ausnahmen nur im Süden gesehen. Besonders im Südosten Europas.

Die alten Männer im Kalemegdan-Park in Belgrad, in den Cafés in Dhermi, Albanien, in Sarajevo und Sofia, am Hafen von Ithaka und auf Feldern irgendwo in Bulgarien und Rumänien. Ich wollte immer eine Ode an die Männer vom Balkan schreiben –

Oh Ihr Männer mit den immer staubigen Anzughosen mit Bügelfalte / mit den bei Hitze bis zum Hosenbund aufgeknöpften oder um die Taille geknoteten Hemden!/ Eure Oberkörper, selbstverständlich nackt/ wie Eure Hände und Füße/ kein Grund, sich nach hinten zu lehnen/ und die Luft anzuhalten wie die Jungen/ ganz selbstverständlich/ nackte Haut mit weißen Brusthaaren/

– Eine Ode an die Selbstverständlichkeit weißer Brusthaare. Eine Ode an die Hüte und die geschlossenen, meist spitzen schwarzen Schuhe (niemals Sandalen oder Turnschuhe). An die hölzernen Gehstöcke (niemals Rollatoren). Die Eleganz, mit der die Männer in den Parks und Cafés sitzen und die Zeit vergehen lassen, Backgammon oder Karten spielen und manchmal eine Taschenuhr aus dem Revers ziehen. Oh Könige der Eleganz des Zeitverstreichenlassens!

Die Ihr niemals seniorengerechte Autos fahrt/ nur den alten Mercedes mit Ledersitzen/ die Ihr nicht anfangt „pass doch auf!“ zu sagen und nicht aufhört, Blicke zu werfen,/ mit der Zunge zu schnalzen oder zu zwinkern/ tssss macht Ihr nie/ ob Ihr 70, 80 oder 90 seid/ oh Ihr Männer vom Balkan.

Den Italiener in Bukarest – er war Mitte 60 vielleicht – hatte ich eigentlich längst vergessen. Bis er mir im Zug kurz vor der ungarisch-rumänischen Grenze einfiel, in Lököshaza wahrscheinlich. Genauer gesagt fiel mir seine Frage ein, die er stellte, als er mich im Gewühl der Strada Lipșcani irgendwann eingeholt hatte: You traveller, not tourist. Yes?

Ich weiß nicht, ob das seine allgemeine Einstiegsfrage auf Reisen war. Sie ist ein Zitat aus dem Film Himmel über der Wüste, wie mir eine Freundin später erzählte. Sie lachte darüber, dass ich davon beeindruckt war. Aber selbst, wenn er sie nicht erfunden hat – sie traf ins Schwarze meiner Gedanken. Damals und auch jetzt, da ich nach Rumänien fahre, denke ich darüber nach.

Ein Traveller reist mit Kenntnis und Erfahrung des Landes, er hat dort Freunde, spricht mindestens in Ansätzen die Sprache und verbringt regelmäßig längere Zeit dort. Ein Tourist reist mit wenig oder völlig ohne Kenntnis, er reist eigentlich strenggenommen gar nicht. Er fliegt, gemeinsam mit Partner oder Freunden in ein Land, in dem er niemanden kennt. Er kann Guten Tag und Guten Abend sagen und weiß über die besten Strände oder Museen oder Cafés Bescheid. Er weiß kaum etwas darüber, welche Debatten gerade im Land geführt werden.

Traveller und Tourist ist eine Unterscheidung wie Freund und Bekannter.

Wie Kindergarten- und Schulfreunde sich irgendwann entfernen, hat sich auch Rumänien entfernt. Ich habe zwei Jahre dort gelebt, das ist zehn Jahre her. Seitdem war ich fast jedes Jahr dort. Aber die engen Kontakte sind lockerer geworden, ich verstehe und spreche die Sprache nicht mehr gut, das Land ist mir immer weniger vertraut. Ich bin Traveller. Aber bald werde ich Touristin sein.

Oder ich bin es schon. Traveller und Tourist, beides zugleich. Vielleicht kann man das auch von außen sehen. Vielleicht hat Enzo das gesehen.

Ich sah, wie er sich durch die Haare fuhr und mit den Händen durch die Luft. Wie er seine Pasta mit dramatischer Empörung bei den Kellnern reklamierte, vier Finger auf die Daumen gelegt, die Kellner gleichgültig. Das war im Hanu‘ lui Manuc, der ältesten osmanischen Herberge Bukarests, heute als Tipp markiertes Restaurant in jedem Reiseführer. Ich wäre niemals dorthin gegangen wäre, wenn er mir nicht diese Frage gestellt hätte.

Ich konnte ihm selbst keine Frage stellen, das heißt er konnte meine Fragen nicht beantworten. Er sprach nämlich gar kein Englisch. Außer traveller, tourist, nice und it’s too much. It’s too much sagte er sehr oft an diesem Abend. Er erklärte etwas auf Italienisch, das ich nicht verstand. Es war immer das Gleiche. Dabei zeigte er auf sich, auf seine nackten Unterarme und sein Gesicht, dann winkte er ab und sagte: It’s too much. Diese Szene wiederholte sich einige Male. Ich weiß nicht mehr, ob er das Wort old sagte oder ob ich das, was er sagte, nur in diesem Sinn verstand. Oder ob ich es erst heute im Zug bei Lököshaza so verstehe und damals, als ich nickte, dachte ich etwas ganz anderes. Jedenfalls nickte ich. Ich war mir sicher zu verstehen, was er meinte, – oder was ich mir selbst unter Dingen, die zu viel sind, vorstellen konnte. Das verschwimmt in Gesprächen oft. Es kann etwas völlig Unterschiedliches gewesen sein. Aber vielleicht macht das nichts. Etwas war unerträglich. Es gibt so viel, was zu viel ist.

Wie die wattigen Hügel, die hinter Arad beginnen.

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In dieser Jahreszeit leuchten sie neongrün, das habe ich schon hundertmal beschrieben. Nur sehen sie jetzt so schön aus, dass ich sie gerne noch einmal beschreiben würde und denke, ich muss sie doch jedesmal neu beschreiben, wenn ich mit dem Zug nach Rumänien einfahre. Auch wenn sie so aussehen wie immer, möchte ich sie beschreiben wie nie dagewesen. Das kann nicht klappen. Auch die Reihenfolge der Städte hinter der rumänischen Grenze kriege ich nicht mehr zusammen, kommt Deva vor oder hinter Sebeș und wann kommt Vintu de Jos?

Ich weiß nur, wenn die Hügel beginnen, beginnt Siebenbürgen. Die Hügel sehen immer gleich aus, sie werden auch beim nächsten Mal so aussehen, egal wie ich dann aussehe.

Über Julia Jürgens

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