Ich wollte immer eine Ode an die alten Männer vom Balkan schreiben

In der Altstadt von Bukarest folgte mir vor ein paar Jahren ein Mann, der sofort als Italiener zu erkennen war. Er hatte dieses leicht aufgedunsene Mario-Adorf-Gesicht, etwas zwischen Schelm und Ganove. Große Nase, kleine Augen, dichtes weißes Haar. Ich sah ihn schon von weitem. Er trug ein weit aufgeknöpftes, hellrosa Hemd, himmelblaue Hosen und Lederslipper. Mit traurigem, dabei flirtiv verhangenem Blick schaute er den Fußgängern entgegen. Sicher war er jahrzehntelang ein Frauenheld gewesen. Er sah immer noch gut aus. Er sah auch immer noch wie ein Frauenheld aus, aber mehr wie jemand, der einen Frauenheld darstellt und zwar den, der er selbst einmal war.

So wie Sylvester Stallone in Rocky Balboa. Rocky Balboa ist 60 Jahre alt, sein erster großer Kampf liegt dreißig Jahre zurück. Auch Sylvester Stallone ist 60 Jahre alt. Sein Film Rocky I, der diesen Kampf zeigt, ist vor dreißig Jahren im Kino gelaufen. Und Sylvester Stallone als Rocky Balboa schaut jetzt diesen Film. Man sieht seinen schwer gewordenen Körper vor dem Fernseher sitzen, in dem er als junger, agiler Boxer zu sehen ist, der auf seinen Gegner eindrischt. Sylvester Stallone mutet sich diesen Vergleich zu und dem Zuschauer auch, der sich dabei fragen muss, wie er sich, seit er Rocky I gesehen hat, selbst verändert hat. Ich schaue also auf mich und meinen ebenfalls schwerer gewordenen Körper vor dem Bildschirm, auf dem der alte Sylvester Stallone eine jüngere Version seiner selbst kämpfen sieht. Dann steigt er selbst ein letztes Mal in den Ring, Sylvester Stallone alias Rocky Balboa, und kämpft – gegen sich selbst natürlich. Alt gegen jung. Der Kampf, den wir alle kämpfen, nicht ganz so offensichtlich vielleicht.

Im Film gelingt dieser Shift, wenn man die früheren Filme und Versionen von Rocky kennt. Von dem Italiener, den ich in der Fußgängerzone in Bukarest sah, kannte ich nur die aktuelle Version. Und trotzdem sah ich beim Näherkommen diese unterschiedlich alten Bilder von ihm aufsteigen. Enzo I, Enzo II, Enzo III und so weiter – er hieß Enzo, wie sich später herausstellte. Wie ein Daumenkino blätterten sich die Bilder auf, deshalb schaute ich mich nach ihm um, und er stand von der Bank auf, auf der er gesessen hatte und folgte mir.

Bei südeuropäischen Männern kann man den Prozess manchmal sehen, der bei den meisten Menschen rein innerlich abläuft: Wie das Alter das jugendliche Selbstbild aus den Angeln hebt. Sie tragen das offen zur Schau. Eine ganze Weile, manchmal bis sie Greise sind, sieht man in ihnen Jugend und Alter wie Licht und Schatten bei einer Mondfinsternis. Langsam verschwindet das eine im anderen. Aber bis dahin ist beides zu sehen: Wie sie einmal waren und und wie sie heute aussehen.

Beides zu zeigen ist nicht selbstverständlich. In unserer Kultur findet man das schnell lächerlich. „Sich jünger machen“, sagt man und meint das abwertend. Deutsche Männer und Frauen machen sich lieber alt. Ab 60 oder spätestens 70 kleiden sie sich, als sei jede Anmutung an Geschlecht, Farbe und Lebensfreude irgendwie pervers.

Andersherum gibt es die Berufsjugendlichen, die das Alter komplett ignorieren. Alt zu werden ist für sie so schmerzlich wie für die Alten, jung gewesen zu sein. Beides zu sein, jung und alt, scheint irgendwie nicht möglich. Ich habe es bis auf wenige Ausnahmen nur im Süden gesehen. Besonders im Südosten Europas.

Die alten Männer im Kalemegdan-Park in Belgrad, in den Cafés in Dhermi, Albanien, in Sarajevo und Sofia, am Hafen von Ithaka und auf Feldern irgendwo in Bulgarien und Rumänien. Ich wollte immer eine Ode an die Männer vom Balkan schreiben –

Oh Ihr Männer mit den immer staubigen Anzughosen mit Bügelfalte / mit den bei Hitze bis zum Hosenbund aufgeknöpften oder um die Taille geknoteten Hemden!/ Eure Oberkörper, selbstverständlich nackt/ wie Eure Hände und Füße/ kein Grund, sich nach hinten zu lehnen/ und die Luft anzuhalten wie die Jungen/ ganz selbstverständlich/ nackte Haut mit weißen Brusthaaren/

– Eine Ode an die Selbstverständlichkeit weißer Brusthaare. Eine Ode an die Hüte und die geschlossenen, meist spitzen schwarzen Schuhe (niemals Sandalen oder Turnschuhe). An die hölzernen Gehstöcke (niemals Rollatoren). Die Eleganz, mit der die Männer in den Parks und Cafés sitzen und die Zeit vergehen lassen, Backgammon oder Karten spielen und manchmal eine Taschenuhr aus dem Revers ziehen. Oh Könige der Eleganz des Zeitverstreichenlassens!

Die Ihr niemals seniorengerechte Autos fahrt/ nur den alten Mercedes mit Ledersitzen/ die Ihr nicht anfangt „pass doch auf!“ zu sagen und nicht aufhört, Blicke zu werfen,/ mit der Zunge zu schnalzen oder zu zwinkern/ tssss macht Ihr nie/ ob Ihr 70, 80 oder 90 seid/ oh Ihr Männer vom Balkan.

Den Italiener in Bukarest – er war Mitte 60 vielleicht – hatte ich eigentlich längst vergessen. Bis er mir im Zug kurz vor der ungarisch-rumänischen Grenze einfiel, in Lököshaza wahrscheinlich. Genauer gesagt fiel mir seine Frage ein, die er stellte, als er mich im Gewühl der Strada Lipșcani irgendwann eingeholt hatte: You traveller, not tourist. Yes?

Ich weiß nicht, ob das seine allgemeine Einstiegsfrage auf Reisen war. Sie ist ein Zitat aus dem Film Himmel über der Wüste, wie mir eine Freundin später erzählte. Sie lachte darüber, dass ich davon beeindruckt war. Aber selbst, wenn er sie nicht erfunden hat – sie traf ins Schwarze meiner Gedanken. Damals und auch jetzt, da ich nach Rumänien fahre, denke ich darüber nach.

Ein Traveller reist mit Kenntnis und Erfahrung des Landes, er hat dort Freunde, spricht mindestens in Ansätzen die Sprache und verbringt regelmäßig längere Zeit dort. Ein Tourist reist mit wenig oder völlig ohne Kenntnis, er reist eigentlich strenggenommen gar nicht. Er fliegt, gemeinsam mit Partner oder Freunden in ein Land, in dem er niemanden kennt. Er kann Guten Tag und Guten Abend sagen und weiß über die besten Strände oder Museen oder Cafés Bescheid. Er weiß kaum etwas darüber, welche Debatten gerade im Land geführt werden.

Traveller und Tourist ist eine Unterscheidung wie Freund und Bekannter.

Wie Kindergarten- und Schulfreunde sich irgendwann entfernen, hat sich auch Rumänien entfernt. Ich habe zwei Jahre dort gelebt, das ist zehn Jahre her. Seitdem war ich fast jedes Jahr dort. Aber die engen Kontakte sind lockerer geworden, ich verstehe und spreche die Sprache nicht mehr gut, das Land ist mir immer weniger vertraut. Ich bin Traveller. Aber bald werde ich Touristin sein.

Oder ich bin es schon. Traveller und Tourist, beides zugleich. Vielleicht kann man das auch von außen sehen. Vielleicht hat Enzo das gesehen.

Ich sah, wie er sich durch die Haare fuhr und mit den Händen durch die Luft. Wie er seine Pasta mit dramatischer Empörung bei den Kellnern reklamierte, vier Finger auf die Daumen gelegt, die Kellner gleichgültig. Das war im Hanu‘ lui Manuc, der ältesten osmanischen Herberge Bukarests, heute als Tipp markiertes Restaurant in jedem Reiseführer. Ich wäre niemals dorthin gegangen wäre, wenn er mir nicht diese Frage gestellt hätte.

Ich konnte ihm selbst keine Frage stellen, das heißt er konnte meine Fragen nicht beantworten. Er sprach nämlich gar kein Englisch. Außer traveller, tourist, nice und it’s too much. It’s too much sagte er sehr oft an diesem Abend. Er erklärte etwas auf Italienisch, das ich nicht verstand. Es war immer das Gleiche. Dabei zeigte er auf sich, auf seine nackten Unterarme und sein Gesicht, dann winkte er ab und sagte: It’s too much. Diese Szene wiederholte sich einige Male. Ich weiß nicht mehr, ob er das Wort old sagte oder ob ich das, was er sagte, nur in diesem Sinn verstand. Oder ob ich es erst heute im Zug bei Lököshaza so verstehe und damals, als ich nickte, dachte ich etwas ganz anderes. Jedenfalls nickte ich. Ich war mir sicher zu verstehen, was er meinte, – oder was ich mir selbst unter Dingen, die zu viel sind, vorstellen konnte. Das verschwimmt in Gesprächen oft. Es kann etwas völlig Unterschiedliches gewesen sein. Aber vielleicht macht das nichts. Etwas war unerträglich. Es gibt so viel, was zu viel ist.

Wie die wattigen Hügel, die hinter Arad beginnen.

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In dieser Jahreszeit leuchten sie neongrün, das habe ich schon hundertmal beschrieben. Nur sehen sie jetzt so schön aus, dass ich sie gerne noch einmal beschreiben würde und denke, ich muss sie doch jedesmal neu beschreiben, wenn ich mit dem Zug nach Rumänien einfahre. Auch wenn sie so aussehen wie immer, möchte ich sie beschreiben wie nie dagewesen. Das kann nicht klappen. Auch die Reihenfolge der Städte hinter der rumänischen Grenze kriege ich nicht mehr zusammen, kommt Deva vor oder hinter Sebeș und wann kommt Vintu de Jos?

Ich weiß nur, wenn die Hügel beginnen, beginnt Siebenbürgen. Die Hügel sehen immer gleich aus, sie werden auch beim nächsten Mal so aussehen, egal wie ich dann aussehe.

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Ich habe alles gesehen. Die Reisekrise

Ich habe auf der letzten Reise eine Entdeckung gemacht. Ich reise nicht mehr so gern. Eigentlich habe ich das schon vorher gespürt, deshalb wollte ich erst gar nicht fahren. Für jemanden, der einen Reiseblog hat, ist das eine traurige Entdeckung. Ich reise zwar nicht nur, um zu schreiben. Aber ich schreibe nur, wenn ich reise. Das sind wenige Wochen im Jahr. Es wären mehr, viel mehr, habe ich bis dahin gedacht, wenn ich nur mehr als 30 Urlaubstage hätte. Wie alle Mutmaßungen darüber, was man tun würde, wenn man könnte, war aber auch diese halbherzig. Man würde eben nur, wenn man könnte. Solange bis man kann.

Aus diesem Grund habe ich seit Jahren Angst, bei der Verlosung des Grundeinkommens zu gewinnen, oder, schlimmer noch, beim Lotto. Dann, wenn alles möglich wäre, würde man ja merken, was möglich ist. In dieser Lage war ich zum Glück nicht. Und trotzdem kam mir meine Reiselust plötzlich unecht vor. Schal. Erst dachte ich, sie würde vielleicht wiederkommen, so wie die Leidenschaft in einer Beziehung manchmal. Aber eine Woche bevor die Reise losgehen sollte, war sie noch nicht wieder da. Sie kam nicht, als ich den Reiseführer über Moldova las („ein liebenswerter kleiner Staat im Osten Europas“), und auch nicht, als ich mich probeweise auf google maps an die Ukraine heranzoomte. Städte, erst ganz nah beieinander, rückten voneinander weg, und dazwischen zogen sich gelbe Straßen auf, die ich entlangfahren würde. Eine Vorstellung, die mich elektrisiert, normalerweise.

Warum das nicht mehr so ist, darüber habe ich während der Reise nachgedacht. Im Nachtzug von Berlin nach Budapest, von Bukarest nach Chișinău, von Przemyśl nach Poznan und auf all den langen Busfahrten dazwischen. Beim Fahren kann ich gut nachdenken, besonders nachts. Und ich glaube, es liegt daran: Ich habe das alles schon gesehen.

Ich meine nicht die Orte, die ich gut kenne, weil ich sie oft besuche, wie Sibiu. Ich meine Orte, an denen ich noch nie war. Das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein, stellt sich nach wenigen Minuten ein. Ich weiß nicht, wann das Wie anfing. Dass Bukarest wie Paris war, Lemberg wie Wien, Chișinău wie Kaliningrad. Reiseführer prahlen immer mit solchen Vergleichen, aber im Grunde sind sie der Alptraum jeden Entdeckers. Der Bahnhof, die Hauptstraße, die Straßencafés – jeder Ort erinnert sofort an einen anderen. Das ist natürlich eine Folge des Reisens und des sich anhäufenden Wissens. Aber es fällt mir nicht nur beim Reisen auf. Bei Menschen geht es mir genauso. Bei Kleidern. Und bei vielen anderen Dingen. Der gelbe Rock, den ich mir letzte Woche gekauft habe, ist ein bisschen wie der, den ich als Teenager hatte. Das Lied im Radio, das neue von hm hm hm, klingt wie der Hit damals von mh mh mh. Wie er heißt, fällt mir typischerweise nie ein, aber ich weiß: Ich habe ihn schon gehört.

Es gibt, so glaube ich, von allen Dingen und Wesen nur eine endliche Zahl von Grundtypen. Und die müssen sich irgendwann wiederholen. Bei Männern fiel mir das als erstes auf. Männer, die mir heute begegnen, und die ich nicht kenne, sind in ihren Grundzügen alle unter einen Mann zu subsumieren, den ich schon kenne. Vom Typ her. Es gibt vielleicht vier oder fünf Grundtypen, die sich stark vereinfacht auf einige Charaktereigenarten und Äußerlichkeiten herunterbrechen lassen, so wie die Figuren bei der Commedia dell‘ Arte: Der Harlekin (der ewige Spaßmacher), der Dottore (weiß zu allem was zu sagen, hat aber eigentlich keinen Durchblick), Pantalone (reicher Kaufmann mit Präferenz für junge Mädchen, der heutige Sugar-Daddy) usw. Die Männer-Typen sind andere und in Wirklichkeit immer komplexer. Aber von der Idee her sind sie Typen. Vielleicht sagt man deshalb auch: Der Typ.

Bei Städten ist das auch so. Die Grundstruktur kann architektonisch und historisch erklärt werden – die mittelalterliche Stadt, die sozialistische Stadt – und individuell emotional, wie die Männer-Typologie auch. Ich fühle, wenn mir Bekanntes begegnet, es in Strukturen zu beschreiben ist weniger leicht. Die Erkenntnis, dass es solche Strukturen gibt, hat bei Städten und Männern aber eine ganz unterschiedliche Konsequenz. Bei Männern ist sie positiv. Der Gedanke, dass jemand mit neuen, nie dagewesenen Eigenarten daherkommen könnte, verschwindet mit der Erfahrung, dass es eben nur die Grundtypen gibt. Wie die Grundfarben. In unterschiedlicher Mischung und Schattierung. Das klingt vielleicht resigniert, aber so meine ich es gar nicht. Im Gegenteil. Es ist toll. Struktur ist ein Nadelöhr, mit dem man seine Wahrnehmungen verengt. Man sieht die Dinge besser, die wichtig sind. Sie fallen sofort ins Auge.

Beim Reisen aber ist genau das enttäuschend. Man möchte nie dagewesenes, immer wieder.

Ob gut oder schlecht – es ist logisch, dass man, je länger man auf der Welt ist, immer mehr Ähnlichkeiten erkennt. Vielleicht erscheint es auch nur logisch, weil andere es schon so klug durchdacht haben: Wie Ähnlichkeiten im Vergleich entstehen und Strukturen bilden, aus denen wiederum unsere Wirklichkeit entsteht. Mit der These wurde vor über 70 Jahren der Strukturalismus begründet. Einer seiner Vordenker war der Ethnologe Claude Lévi-Strauss. Über ihn habe ich meine allererste Seminararbeit geschrieben, im Wintersemester 96/97. Es ging um indianische Mythen und die These von Claude Lévi-Strauss, dass in allen diesen Mythen eigentlich nur ein einziger steckt. Nämlich der Mythos vom Vogelnestausheber. Darin befiehlt ein Vater seinem Sohn, auf einen Baum zu klettern, der so schnell wächst, dass er nicht mehr herunterkommt. Das ist auch die Absicht des Vaters, einer Art Halbgott, der sich in eine der Frauen des Sohnes verliebt hat. Der Sohn wird schließlich von zwei Schmetterlingen gerettet, der Vater stirbt.

Nach Ansicht von Claude Levi-Strauss sind alle indianischen Mythen Nordamerikas Transformationen dieser einen Geschichte. Das war damals schwer zu begreifen. Ich fand es absurd. Claude Lévi-Strauss hatte 813 Mythen von weit voneinander entfernten, über ganz Nordamerika verstreuten Stämmen zusammengetragen und untersucht. Die, die ich las, klangen ziemlich verschieden. Wie konnten sie alle die gleiche Geschichte erzählen?

Heute denke ich, ich weiß, wie Lévi-Strauss darauf kam. Er las die Mythen womöglich mit dem Gefühl, das ich auf Reisen habe. Alles, was er sah, las oder hörte, hatte er schon einmal gesehen, gelesen oder gehört. Es hatte alles das gleiche Muster. Vielleicht sind das Beobachtungen, die Menschen ab 40 überall auf der Welt machen. Vielleicht ist der Strukturalismus aus diesem Lebensgefühl heraus entstanden. Aus einer Art Müdigkeit. Claude Lévi-Strauss war jedenfalls 41, so alt wie ich, als er seine erste Studie über Verwandtschaftssysteme veröffentlichte, die heute als bahnbrechend gilt. Darin beschreibt er Beziehungen als universelle Strukturen, die in jeder Kultur ähnlich auftauchen.

I HAVE SEEN IT ALL. Dieses so schwer zu widerlegende Ü-40-Gefühl. Beim Reisen taucht es in vier Grundtypen auf:

  1. Ich habe das alles schon einmal gesehen, und wenn ich es noch einmal sehe, erinnere ich mich daran, wie ich es damals gesehen habe, und die Erinnerung überdeckt das, was ich wahrnehme

  2. Ich habe das alles schon einmal mit x gesehen, und es wird mich immer an x erinnern, auch wenn ich noch einmal mit y hinfahre

  3. Ich habe natürlich nicht alles gesehen, aber das was ich nicht gesehen habe, interessiert mich auch nicht (You haven’t seen elephants, Kings or Peru/ I’m happy to say I had better to do)

  4. Ich habe natürlich noch nicht alles gesehen, aber ich sehe in allem, was ich sehe, Bekanntes, und damit erkenne ich das, was neu ist, nicht mehr.

Wie man unschwer erkennen kann, hat das Reisen zwei Probleme. Oder Herausforderungen. Das Alter und die Liebe. Über das Alter und das Reisen schreibe ich beim nächsten Mal.

Der Song zum Text kommt von: Björk

I have seen it all
I have seen the trees
I have seen the willow leaves
Dancing in the breeze

I’ve seen a man killed
By his best friend,
And lives that were over
Before they were spent.

I’ve seen what I was
And I know what I’ll be
I’ve seen it all
There is no more to see

You haven’t seen elephants
Kings or Peru

I’m happy to say
I had better to do

What about China?
Have you seen the Great Wall?

All walls are great
If the roof doesn’t fall
And the man you will marry
The home you will share

To be honest
I really don’t care

You’ve never been
To Niagara Falls

I have seen water
It’s water, that’s all

The Eiffel Tower
The Empire State

My pulse was as high
On my very first date

 

 

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Das Licht hinter Pisa

Das Licht hinter Pisa ist ein Los Angeles-Licht, wie eine OP-Lampe hängt es in den Bäumen und macht die Farben matt, die Wiesen und Äcker, die schon vom Winter blass sind.

Es ist auch ein Licht wie in Lissabon, als es Edek so blendete, dass er nach meiner Hand griff und sich eine Sonnenbrille kaufen musste, am Flohmarkt unten am Tejo. Das war am ersten Tag unserer ersten Reise. Ich kaufte mir ein Brillenetui von Yves Saint Laurent ohne Brille und eine Madredeus-Kassette, die ich jahrelang hörte. In meiner Erinnerung ist die ganze Reise in diesem Licht.

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Das Licht in Pisa steht nicht für sich, wie die Wahrnehmungen von Pisa nicht für sich stehen. Es haftet ihnen etwas an, wie Moos an einem Stein.

Ich fürchte manchmal, ich habe gar keine Wahrnehmungen mehr, nur noch Erinnerungen im Jetzt. Der Blick geht zurück, nicht mehr geradeaus wie früher. Ich denke nicht, das ist das Licht von Pisa oder von Florenz, sondern: Das ist das Licht von L.A. und von Lissabon, das auch in Pisa und Florenz ist. Wenn man älter wird, ist weniger, wie es ist, und mehr so wie etwas anderes.

Den ganzen Tag will ich in das Licht von Pisa zurück. Als ich aus der Flughafenhalle ins Freie trete, steht es wie eine Erscheinung am Himmel. Im Auto gleitet es von Baumkrone zu Baumkrone neben mir her und löst alles Trübe auf. Ein paar Stunden später in Florenz denke ich an dieses Licht zurück, aber noch später in Borgo alla Collina versuche ich mir das Licht von Florenz vorzustellen, wo ich doch gerade war und mir das Licht von Pisa vorgestellt habe und dachte, so war das Licht auch in L.A.

Jeder Moment hat ein Loch, in dem ich den vorigen sehe, von dem ich mir wünsche, ich wäre dort länger geblieben, mit mehr Aufmerksamkeit, und das setzt sich immer weiter fort.

Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Licht von Florenz und Borgo alla Collina und gegenüber Florenz und Borgo alla Collina überhaupt. In Florenz im Café hätte ich mir die Umgebung einprägen müssen, anstatt an Pisa zu denken. Das Licht am Dom, das die Fassade strahlen ließ, vor dem blauen Himmel. Immerhin sah ich, und das war ein neuer, wirklich nur auf Florenz gemünzter Gedanke, dass die Stadt eigentlich für den Sommer gemacht ist. Sie erwartet Menschen in kurzen Hosen und Kleidern, die Jacken und Mützen sehen falsch aus, und die Kälte fühlt sich in den Gassen, die man nur mit Sommerhitze kennt, seltsam an. Und doch sind sie schöner so, klarer ausgeprägt.

Die Toskana ist der Landstrich mit den meisten Zypressen, sagt Mati im Auto. Sicher behaupten das Menschen in vielen Regionen der Welt, und es ist so wie mit dem Licht, das in vielen Regionen gleich zu sein scheint. Niemand wird je nachprüfen, ob es stimmt.

Zypressen sind introvertiert, finde ich, weil sie nur nach oben wachsen, nicht nach rechts oder links, sie geben ihre Äste nicht ein bisschen frei, wie Fichten oder Tannen. Im Auto kann man auch so etwas gut sagen, Fahren macht die Dinge relativ. Seltsam, dass sie gerade dann so interessant und offen erscheinen. Wenn sie so schnell verschwinden. Vielleicht ist sogar das Licht beim Fahren am schönsten.

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Die Zypressen rauschen vorbei, das fahle Gras, die schneebedeckten Berge links, die Vorstädte hinter Florenz, die Straßendörfer, das Zementwerk, Cafés mit heruntergelassenen Jalousien, Häuser, die ich mir nicht genau genug angesehen habe, um sie beschreiben zu können, die Hunde auf der Straße, eine dicke schwarzweiße Katze, eine Burg, die aussieht wie im Bilderbuch, mit Zinnen und Türmen, ein Dorf auf einem Hügel auf der gegenüberliegenden Seite, im leicht rötlichen Licht der untergehenden Sonne, einem neblig hellrot dunstigen Licht mit noch ein bisschen Gelb darin.

Und dann lassen wir das alles hinter uns und fahren in die Berge hinauf.

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Den tapferen Urlaubssoldaten

Auf der Promenade vor mir laufen ein kleiner weißer Pudel, ein Mann in grüner Windjacke und eine Frau in roter Windjacke. Der Pudel läuft zielstrebig, oder er tut so. Anders als der Mann und der Frau. Auf der Anhöhe vor der Seebrücke bleiben sie stehen. Links ein paar Buden, rechts eine Schneise durch die Dünen zum Meer. Alle paar hundert Meter eine Imbissbucht. Die Fischbrötchen sind überall dieselben, Bismarck, Matjes, Seelachs, Backfisch. Man könnte hier schon was essen oder auch später. Es ist egal. Es muss nur entschieden werden. Der Hund zieht weiter, der Mann und die Frau folgen, ich auch.

Eine ganze Armee von Menschen ist unterwegs, an der Steilküste und unten am Strand. Auf dem Weg von Koserow nach Zinnowitz und die Seebrücke von Koserow rauf und runter. Nur auf Promenaden gehen Menschen so. Heben die Füße, verlagern das Gewicht, wenn es der rechte Fuß ist, nach links, ein bisschen weiter als sonst und tauschen dann die Seiten. Wie eine Pantomime vom Spazierengehen. So gehen Alte und Junge auf allen mir bekannten Seepromenaden dieser Welt.

Urlaub sieht tapsig aus. Wie soll das auch in Würde gehen, vor allem, wenn es kalt ist? In Windjacken und Trekkinghosen in Dreiviertellänge. Für Männer scheint das noch schwieriger als für Frauen. In diesen Hosen mit den Taschen an den Seiten, die leer sind und flach anliegen, weil nichts darin ist, außer einem Taschentuch vielleicht – jedenfalls kein Taschenmesser und kein Werkzeug, wofür die Taschen gemacht sind – und das lässt sie so hilflos aussehen.

Und das Gehen. Dieses Gehen auf freier Strecke, die keinen Höhepunkt hat wie ein Berg, auf dem man irgendwann ankommt. Die immer weiterläuft, scheinbar ins Unendliche. Und so laufen sie weiter, die Spaziergänger, und haben den Ausdruck von streunenden Hunden im Gesicht, diese Mischung aus Tapferkeit und Unbehagen. Die Hunde in Rumänien, die mich damit immer so rühren: Wie sie den Anschein eines autonomen und unbekümmerten Vorwärtstrabens wahren, während sie doch gequält davon sind, allein durch die Straßen laufen, ganz entgegen ihrer Bestimmung.

Nicht zu wissen, wohin man läuft, wäre hier aber völlig ok. Für den Zweck, für den die Menschen auf Usedom sind: Entspannung. Urlaub.

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Eigentlich ist es ja eher ein Auftrag: AUFTRAG URLAUB.

Einer der schwersten, den ein arbeitender Mensch zu erfüllen hat, möglicherweise. Zwei bis drei Wochen, ohne jede Vorgabe. Ohne Zeitfenster und Feedback. Ohne Struktur, außer Frühstück, Mittag, Abendessen und Schlafen. Dazwischen ist Initiative gefordert. Ein Wille. Wünsche. Impulse.

Man ist komplett auf sich angewiesen. Auf die eigene Stimme, die etwas sagt, irgendeinen Satz, der beginnt mit: Ich will. Egal was. Zeitung lesen, Seeluft riechen, schlafen, nur im Strandkorb sitzen, doch mal wieder Sex haben, vor dem Fernseher sitzen. Wäre alles ok. Wenn Urlaub nicht noch den Anspruch hätte, erlebnisreich zu sein. Die schönste Zeit des Jahres.

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Früher war das so. Früher gab es am Anfang der Ferien einen Kescher und einen Spaten. Damit haben wir Seesterne und Krebse gesammelt und Burgen gebaut. Am Ende ließen wir alles dort, die getrockneten Seesterne auf dem Balkon. Es gab Pferde, auf der Wiese gegenüber der Kurmuschel, eins hieß Juri. Nicht jeden Tag, aber manchmal durfte ich drei Runden auf ihm reiten.

In Urlaub gefahren bin ich zuletzt als Kind. Seit ich erwachsen bin, reise ich. Da passiert auf andere Weise etwas, automatisch. Dieses Jahr habe ich mich aber nach Urlaub gesehnt. Stationär, so wie ich früher mit meiner Familie Urlaub gemacht habe, in Pelzerhaken, am Meer. Jeden Tag an den Strand. Lesen, essen, schlafen. Mehr nicht.

Deshalb bin ich hier, auf Usedom. Ich habe viel Zeit. Genug, um mich zu fragen, ob ich sie richtig nutze. Beim Reisen frage ich mich das nie. Erhole ich mich? Tue ich die richtigen Dinge, um mich zu erholen? Könnte ich noch mehr tun? Die Ostsee macht einem das nicht leicht. Es regnet, bei 19 Grad. Am zweiten Tag wünsche ich mich weit weg. An einen anderen Strand, in ein anderes Leben.

Das geht auch anderen so. In Koserow, diesem spröden kleinen Ort an der schmalsten Stelle Usedoms, deuten Bars darauf hin: Die Costa-Rica-Snackbar. Die Tapas-Bar. Eigentlich fährt man doch aber an die Ostsee, weil man Ostsee will. Strandkorb, Möwen, Scholle mit Bratkartoffeln. Die Ostsee soll sich nicht schämen müssen. Auch die im Osten nicht.

Aber die, die sie und die Insel als Urlaubsort verwalten, trauen ihr nichts zu. Ihr nicht und den Urlaubern nicht, die hierherkommen. Sie bieten ihnen Dinge, die mit Ostsee wenig zu tun haben. Wenn aber schon die Insel versucht, eine andere zu sein, wie sollte sich das nicht auf die Touristen übertragen? Zum Beispiel:

Am Ende der Seebrücke in Zinnowitz ist eine riesige Tauchglocke, die aussieht wie eine umgestülpte Tasse. Einmal stündlich fährt sie wie ein Fahrstuhl nach unten, bis einen Meter über dem Meeresboden. Vor den Schiffsluken wird es langsam grün, ein kleiner Kick stellt sich ein. Vor dem Fenster gleitet eine Qualle vorbei. Kaum erkennbar in diesem irren Grün, wird sie flach und wieder rund wie ein Fallschirm. Zart schimmern ihre rosa Gefäße, die sie als Mann ausweisen, wie der Tauch-Instructor erzählt. Wunderschön. Dann werden 3-D-Brillen ausgeteilt. Der Instructor lässt die Jalousien runter, es wird dunkel. Vorn beginnt ein Film über Meerestiere. Bitte die Brillen aufsetzen. Jetzt sind nur noch Robben zu sehen, in 3D, die „größten lebenden Raubtiere Deutschlands“.

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Den Menschen wird nichts zugetraut, den Tieren auch nicht. Das zeigt auch der Tropen-Zoo in Bansin mit Papageien und Makaken. Ein noch traurigerer Fall ist das Wildlife Usedom in Trassenheide. Im Industriegebiet, neben einer Fabrik für Frischbeton. Hier, in einer alten Lagerhalle, sind die Tiere sogar ausgestopft. Tote Tiere in Lebensgröße, seltsam arrangiert: Ein Eisbär neben einem Moschusochsen, ein Timberwolf neben Füchsen, ein Dachs und ein Vielfraß (den gibt es tatsächlich, das habe ich hier gelernt). Der Dachshund taucht gleich mehrmals auf. Kennst Du mich? steht auf ausgedruckten Papierschildern an der Brüstung vor den Tieren. Da sind „Rehe mit Kitze“ und Glasaugen. Und, irgendwo hinter Glas, eine traurige Boa constrictor, die ist echt, so wie drei auf dem Bauch liegende Kaninchen und aufgeregt hin und herwuselnde chinesische Zwergwachteln (die haben keine Flügel) und ein paar Ziegen hinter dem Haus.

In Ahlbeck gibt es noch die Die Armee der Tonkrieger zu sehen, überlebensgroße Figuren aus China, und in Trassenheide ein Wachsfiguren-Kabinett und die größte Schmetterlingsfarm Europas.

Vielleicht noch ein alter Ost-Reflex: Wenn ich nicht in die Welt komme, hole ich die Welt zu mir?

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Dabei ist die kleine Welt von Koserow schon groß genug. Steilküsten, Wälder, Salzhütten, von denen noch einige in Urform erhalten sind. Und das Atelier des Malers Otto Niemeyer-Holstein. Der lebte hier in einem ausrangierten S-Bahn-Wagen aus Berlin und malte die Buhnen, das Meer, Bäume, in allen Jahreszeiten. In einem Video, das im Ausstellungsraum in Endlosschleife läuft, geht der alte Niemeyer den vereisten Deich entlang, bis zum Meer. Beim Laufen erzählt er, wie ihm alles belebt vorkommt, die Natur, die in Eis gefrorenen Äste und Halme. Die Steine hier, das sind meine Kinder und die da vorne meine Enkel. Ich kenne die seit Jahren. Das ist doch alles nicht tot. Jeden Tag sieht es ganz anders aus, ne.

Ja, übertrieben vielleicht. Aber er hat sich das alles genau angeguckt, viele Jahre lang, und er hatte seine Aufgabe. Allerdings war er hier auch nicht im Urlaub, er lebte hier.

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Sprachgeschichtlich geht der Begriff Urlaub auf das althochdeutsche Substantiv urloup zurück, das zunächst ganz allgemein Erlaubnis bedeutete. Ritter zum Beispiel fragten um Erlaubnis an, wegzugehen. Nicht in Urlaub, nur an einen anderen Hof.

Später wandelte sich die Bedeutung: Urlaub wurde als „offizielle vorübergehende Freistellung von einem Dienstverhältnis“ verstanden, als „dienst- oder arbeitsfreie Tage, die der Erholung dienen“. Urlaub, wie wir ihn kennen, als Massenphänomen, gab es natürlich erst, als Arbeit ein Massenphänomen wurde, losgelöst von Hof und Grund, in Fabriken und Büros verlagert. Urlaub wurde zur Pflicht. Um die man um Erlaubnis fragen musste. Absurd.

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Weil ich gerade freischaffend bin, muss ich niemanden um Erlaubnis fragen. Ich darf einfach so Urlaub machen. Vielleicht unterscheidet mich das von den anderen Urlaubern hier, die noch so aussehen, als seien sie gesammelt zur Sommerfrische geschickt, von der Brigade Bergbau Erzgebirge oder so. Für sie mag Urlaub noch ein Gegensatz zu der Arbeit sein, die sie verrichten. Anders als bei mir, wo Urlaub nur mehr eine Steigerung der Anforderung ist, die die Arbeit täglich an mich stellt (pardon, mein Sabbatical, aber da ist es noch viel dringlicher): Innerer Antrieb! Eigeninitiative! Urlaub ist so und so nicht leicht.

Und so laufen wir hier also. Also, ich sitze im Strandkorb. Von hier sehe ich sie vorbeiziehen, die Steilküste hoch. Stoisch laufen sie voran, einen Fuß vor den anderen. In Gruppen, zu zweit, allein. „Müde und leer“, schreibt der Soziologe Alain Ehrenberg, „unruhig und heftig, kurz gesagt neurotisch wiegen wir in unseren Körpern das Gewicht der Souveränität. Das ist die entscheidende Verschiebung der schweren Aufgabe, die nach Freud das Schicksal des Zivilisierten ist.“ So lese ich und sehe sie laufen, im Regen. Bis nach Zinnowitz und weiter. In ihrer Uniform, bereit ihren Auftrag zu erfüllen, gegen alle Lächerlichkeit. Ich laufe mit ihnen. Oh Ihr tapferen Urlaubssoldaten.

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Hamburg

In der U-Bahn war ein Rumäne, der laut sang. Er hatte nur unten noch Zähne. Er saß gegen Fahrtrichtung am Fenster und sang nicht nur die Singstimme, sondern auch die Gitarre und das Akkordeon mit, das ihm fehlte. Das Schnarren billiger Plastiksaiten konnte er sehr gut imitieren. Ich hörte zuerst nur die Gitarre, den Anschlag und die sich ruckartig mit dem Finger über den Gitarrenhals schiebenden Slides. Meine Augen suchten den Spieler, auch andere schauten sich um, sahen niemanden mit Gitarre und hörten die Töne, es war eine fantastische Irritation. Erst eine Station weiter fing er zu singen an und alle sahen ihn.

Er hatte eine Wollmütze bis an den Rand der Augenlider gezogen und bewegte seinen Kopf im Takt des Liedes. Ich wusste, wie es klingen sollte. Unter der Bedingung, dass er keine Instrumente und oberen Zähne hatte, war der Mann sehr dicht dran. Das merkten die Leute nicht und lachten. Er hielt die Augen geschlossen und nahm niemanden wahr.

Dann wurde er lauter, die Instrumente ließ er jetzt weg.  Seine Stimme wurde zu laut für den Wagen, aber niemand sagte was. Er sang so inbrünstig. Die Leute lächelten jetzt. Er lächelte auch, mit geschlossenen Augen. Dahinter saß er zwischen seinen Kumpels um einen Tisch bei sich zu Hause oder auf einer Hochzeit oder in einer Kneipe, wo er tanzte, denn manchmal hob er die Arme und schnippte mit den Fingern. Er war Jahre zurück oder nur Stunden, bei seiner Familie oder einer Frau, irgendwo an der Alster oder in einem Dorf bei Ploeiști. Vielleicht war er die ganze Zeit in einer einzigen Szene, denn er sang immer wieder die gleiche Stelle.

Vielleicht aber hatte der Moment auch nie stattgefunden, an den er dachte. Ein Abend mit Musik, inmitten von Menschen. Vielleicht träumte er nur davon. Weil er eigentlich der ist, der allein am Tresen sitzt und irgendwann anfängt zu singen, wenn er betrunken ist. Der alle nervt, bis einer aufsteht und ihn rausschleift und ihm eine reinhaut, weil er dabei noch blöd grinst. So hat vielleicht er seine Zähne verloren. Aber das ist ihm egal jetzt.

Ich überlege manchmal, wie Deutsche singen würden, in einer U-Bahn in der Fremde. Deutsche haben gar keine Lieder. In Sprachkursen, an Länderabenden werden sie immer verlegen. Sie sagen dann, sie können keine Strophe auswendig. Aber von welchem Lied die Strophe? Von einem Kinderlied vielleicht oder einem Schlager. Wenn sie einen Text kennen, können sie ihn nicht ohne Ironie singen. Würde man einen Deutschen in einer U-Bahn in einem fremden Land aussetzen, und er müsste mit deutscher Musik sein Geld verdienen, er würde sterben.

Ich glaube nicht, dass dass nur an Hitler liegt. Dass wir keine Lieder singen können, die man meist Volkslieder nennt, wobei ‚Volk‘ hier vor allem heißt, dass die Lieder alt sind und über Generationen weitergegeben wurden. Es gibt sicher Lieder, die man nicht mehr singen möchte, aber eigentlich kennt man eben gar keine. Weil man sie nicht braucht. Ich glaube, mehr als die Heimat ist es Sehnsucht, die uns fremd ist. Wir sind melancholisch. Aber das ist etwas anderes.

Es gibt einen Unterschied zwischen Sehnsucht und Melancholie, denke ich, als ich den Mann in der U-Bahn sehe. Sehnsucht ist warm, sie wird gefühlt, im Sehnen nach Dingen, die verloren, aber noch greifbar sind. Eine Frau oder ein Mann, ein Land, die Heimat, Kindheit. Melancholie ist kalt oder kälter und wird vor allem gedacht. Sie ist die Reflexion der Sehnsucht, eine Sehnsucht in der Theorie. Deshalb lässt sie sich so gut beschreiben.

Mehr als Sehnsucht beschäftigt Melancholie sich mit sich selbst. Sie kann andere Dinge betreffen, bleibt aber meistens bei sich. Sie ist das Leiden an sich selbst, nicht an anderen. Sehnsucht geht weiter hinaus. Sie hofft auf etwas, das die Melancholie schon aufgegeben hat. Der Melancholiker hält sich deshalb für klüger. Er glaubt verstanden zu haben, dass das, wonach man sich sehnt, nicht zu erreichen ist. Deshalb hat er immer einen leichten Spott. Damit kann er nicht gut singen. Er hat das Lied nur im Kopf. Melancholie ist ein Kopfsong. Dazu lässt sich summen, immerhin.

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Hoia Baciu

Hoia Baciu ist ein Wald westlich von Cluj, im Norden Transsilvaniens, dem Land ‚jenseits der Wälder‘. Aus ungarischer Perspektive, aus der sich der Begriff ableitet, beginnt es hinter dem Apuseni-Gebirge. Da, wo Transsilvanien anfängt, hören die Wälder aber nicht auf, sie ziehen sich an den Karpaten entlang in einem Bogen durch ganz Rumänien, im Norden sind sie besonders dicht. Dort, aber auch anderswo, fallen große Teile des Waldes seit Jahren einer meist illegal betriebenen Abholzung zum Opfer. Vor diesem Hintergrund betrachtet hat Hoia Baciu ein glückliches Schicksal. Niemand traut sich an ihn heran, um Holz zu stehlen. Hoia Baciu ist ein Geisterwald.

Einer Legende nach ging einst ein Schäfer mit seinen 200 Schafen in den Wald hinein und verschwand darin. Spurlos, mitsamt der Schafe. Einer anderen Legende nach war es ein Mädchen, das im Wald verschwand und nach fünf Jahren wieder auftauchte, keinen Tag gealtert. Strigoi und Ele, Untote und weibliche Sirenen-Geister sollen den Wald bewohnen, heißt es, und dass Einwohner der an Cluj angrenzenden Dörfer, aber auch ältere Stadtbewohner den Wald noch heute nicht oder nur mit Bedenken betreten.

In moderneren Legenden verschwindet niemand mehr, sondern es taucht etwas auf: UFOs und Erscheinungen, die Menschen im oder über dem Wald gesehen haben, Licht- und Wasserströme, nebelhafte Schemen in menschlicher oder tierhafter Gestalt. Diese Legenden gehen mit Fotos einher. Sie zeigen die Anwesenheit von etwas, das mit bloßem Auge nicht zu erkennen war, nun aber sichtbar gemacht ist, scheinbar, als Beweis. (Die Technik hält dem Wald aber nicht immer stand. Volle Akkus und Batterien leeren sich auf unerklärliche Weise, heißt es, und legen Handies und Kameras lahm.)

1968 erschien Hoia Baciu mit einem Foto in der internationale Presse. Es zeigte einen ringförmigen Gegenstand am Himmel, der als die überzeugendste Abbildung eines UFOs bis dato gewertet wurde. Anhänger der Parapsychologie, die damals einen weltweiten Boom erlebte, pilgerten nach Cluj, vor allem aus den USA, aus Frankreich, Deutschland und Ungarn. Bis Ende der 70er Jahre das Interesse an paranormalen Phänomenen verschwand und nur die Einheimischen den Wald nicht vergaßen.

hoi_1Heute kommen Touristen, die meisten derzeit aus Australien, sagt Alex Surducanu. Er hat mit seinem Freund Marius Lazin vor drei Jahren das Hoia Baciu Project begründet. Der Name erinnert nicht zufällig an das Blair Witch Project – ähnlich wie der Film, soll das Projekt, das den Geisterwald touristisch wiederbeleben will, mit wenig Budget und viel Grusel die Massen anlocken. Touristen mögen Grusel, das zeigt der Dracula-Mythos, Rumäniens erfolgreichste Besucher-Attraktion. Alex glaubt, dass Hoia Baciu an die Bekanntheit Draculas irgendwann anschließen könnte, er möchte die Idee aber nicht ausschlachten. Sein Projekt soll nachhaltig und ökologisch sein, sagt er, und nicht nur für Touristen, sondern auch für Einheimische einen Nutzen haben.

Ich treffe Alex in Cluj, um mich von ihm durch den Geisterwald führen zu lassen. Das Hoia Baciu Project bietet eine Short Day Photo Tour, eine Extended Night Photo Tour und eine Zelt-Übernachtung im Wald. Ich habe mich für die Tagestour entschieden. Als einzige an diesem Tag, noch scheint Hoia Baciu ein Geheimtipp zu sein. Obwohl BBC Travel den Wald 2013 zu den fünf ‚World’s Most Haunted Forests‘ zählte (auf Platz 2 der Schwarzwald übrigens) und ein Jahr vorher der Discovery Channel einen Bericht brachte. Ob das Hoia Baciu Project das neue Medieninteresse befördert hat oder umgekehrt die Medien das Projekt erst angestoßen haben, lässt sich nicht genau sagen.

hoi_2Im Online-Anmeldeformular für die Führung sind unter den Kontaktdaten auch die Erwartungen zu nennen, die man an die Tour hat, und ich habe ein Häkchen gesetzt bei: – Enjoy the nature (have a chill walk), – Get informed (stories and legends of the forest), – Get connected (meditation and rituals). Ich habe kein Häkchen gesetzt bei – Get scared (unexplained phenomena). Man könnte meinen, damit den Kern eines Geisterwaldes zu verfehlen. Aber es geht, das versteht man schon bei der Buchung, auch nicht nur um Grusel. If you travel a lot but didn’t find yet that „something“, steht auf der Website,… make yourselves a gift and come to Romania!

If you didn’t find yet that „something“. Dieses Etwas, das ist die Versprechung. Sie scheint nicht sehr verschieden von der eines Yoga-Retreats, eines Hochseil-Gartens oder eines Dating-Portals. We are here to help you make it your lifetime experience. Ein universales Versprechen wie dieses suggeriert heute vorab typischerweise eine Wahl an Möglichkeiten, wie dieses Erlebnis beschaffen sein soll. So, als könne man entscheiden, was man erlebt – enjoy the nature, get informed, get connected – und das Erlebnis dann gewissermaßen bestellen wie in einem Restaurant das Essen.

Ein seltsamer Widersinn: Man soll bereits wissen, was man sucht und dennoch eine unvorhergesehene Überraschung erleben. Das ist die Crux des Online-Datings und die Illusion der Wahl von Erfahrung überhaupt. Von Leben überhaupt, vielleicht. Hier wird es besonders deutlich: Wie kann ich wählen, was ich in einem Geisterwald erleben möchte, wenn dessen Wesen doch gerade darin besteht, Phänomene jenseits des Erwartbaren zu produzieren (that „something“)?

hoi_3Der Wald sieht zur Mittagsstunde freundlich aus. Lichtflecken tanzen über dem Boden, und trotz der Sonne ist es angenehm kühl. Alex geht voraus und erzählt, während wir uns durch das Dickicht fernab der Wege schlagen, von den merkwürdigen Begebenheiten des Waldes. Für jede liefert er eine mögliche rationale Erklärung: Die Laute, ein Wimmern oder Weinen, das Besucher oft hören, können von sich im Wind biegenden Ästen oder von Tieren kommen oder auch von echoartig aus der Ferne übermittelten Geräuschen. Die Schatten und vermeintlichen Gesichter auf Fotos von technischen Fehlern oder, natürlich, Photoshop. Die ohne jeden Zweifel wahrnehmbare Besonderheit der Bäume, ihre gekrümmten und teils kurvig wachsenden Stämme, könnten durch magnetische oder leichte radioaktive Strahlung des Bodens hervorgerufen werden oder durch Schädlinge, die das Erbgut der Bäume beeinträchtigen.

Das müsse sich doch aber herausfinden lassen, meine ich. Müssten sich Biologen nicht herausgefordert sehen, hinter das Geheimnis des Waldes zu kommen? Es gibt bisher nur verschiedene Theorien und es werden immer noch Untersuchungen durchgeführt, die bisher ohne Ergebnisse sind, sagt Alex. Sichtbar ist, dass das Wachstum der Bäume etwas durcheinanderbringt. Die Stämme wachsen nicht nur nicht gerade nach oben, sie ändern auch teilweise komplett ihre Richtung und wachsen von oben zur Erde zurück, so dass die Krone auf dem Boden liegt. Dieses Phänomen habe ich in extremerer Form schon einmal auf der Kurischen Nehrung nahe Kaliningrad gesehen, erzähle ich Alex, in einem Wald, der dort der ‚Tanzende Wald‘ und von den Einheimischen auch der ‚Betrunkene Wald‘ genannt wird. Dass der Wald dort so und hier als Geisterwald bezeichnet wird, lässt interessante Rückschlüsse auf die Mentalität der Benenner zu, finde ich. Alex zuckt mit den Schultern. Er ist sehr darauf konzentriert, mich gemäß meiner Erwartung mit Informationen zu versorgen.

hoi_4Die Führung bewegt sich von einem Baum mit ausgeprägten Anomalien zum nächsten. Je mehr Bäume ich mir genau anschaue, desto weniger auffällig erscheinen mir die Eigenarten. Ein Stamm, aus dem mehrere Stämme fächerförmig herauswachsen, ein Ast, der wie ein Torbogen über den Weg gewachsen ist, gibt es das nicht auch in anderen Wäldern? In allen Wäldern? Guckt man sonst einfach nicht genau genug hin oder hat man womöglich einen Prototyp von Wald vor Augen, der gar nicht der Wahrheit, also der Natur, entspricht? (So wie auch von Möhren, die ähnlich den Baumstämmen  überwiegend krumm und verzweigt wachsen und selten so, wie sie in Kinderbüchern und Supermärkten aussehen. Das weiß ich auch erst, seit ich einen Garten habe).

Ich bin lange nicht so aufmerksam durch einen Wald gegangen. Die Verschiedenheit der Bäume in Größe, Art und Wuchs ist bei genauer Betrachtung unfassbar. Ein Wald wie Hoia Baciu würde bei uns vielleicht „Wald der Vielfalt“ heißen, denke ich (in der Mentalität jener, die das betonen, was ihnen nicht selbstverständlich ist).

Höhepunkt der Führung ist die Poiana Rotunda, eine kreisförmige Lichtung von etwa 20 Metern Durchmesser. Sie ist das spirituelle Zentrum des Waldes, sagt Alex, hier werden die meisten Phänomene gesichtet, und hier finden heute Yoga-Workshops und spiritistische Sitzungen statt. Sehr sensible Besucher fühlen hier eine besondere Kraft, die sie positiv oder negativ empfinden. Ich schließe die Augen und erinnere mich an den Göttinger Wald, in dem ich als Kind einmal eine Lichtung entdeckte, die ich so schön fand, dass ich meinte, sie sei verzaubert und niemand außer mir könne sie je gesehen haben und tatsächlich fand ich sie selbst nur dieses eine Mal und danach nie wieder. Damals legte ich mich ins Gras und dachte, wenn ich einschlafe, werde ich an einem anderen Ort aufwachen und nie mehr in die Schule gehen. Da war auch die Idee eines  Geisterwaldes, der Traum zu verschwinden.

hoi_5Ein Geisterwald kann auch beglückend sein. So sehr, dass ich mich wundere, wie er überhaupt bedrohlich sein kann, und auch dafür hat Alex eine Erklärung: Der Wald, sagt er, bringe in jedem das zur Erscheinung, was ihn innerlich umtreibe. Er selbst zum Beispiel sei dem Wald zutiefst dankbar, denn er habe ihm die Idee gegeben, ihn zu seinem Berufsinhalt zu machen. Als er nach seinem Uni-Abschluss nicht wusste, was er machen soll, ging er tagelang im Wald spazieren gegangen, um sich zu zerstreuen. Dabei entdeckte er die besonders geformten Bäume und begann, sich für das Phänomen von Hoia Baciu zu interessieren. Kurze Zeit später startete er mit seinem Freund das Hoia Baciu Project.

Alex glaubt nicht an UFOs und Erscheinungen, wie er mir am Ende sagt. Aber er glaubt daran, dass die Menschen in Hoia Baciu das zu sehen bekommen, wonach sie suchen. That ’something‘. Das ist die neueste Legende des Geisterwaldes, eine, die sich auf harmonische Weise in die alten Legenden einfügt. Psychologie und Aberglaube, Selbstfindung und Schicksal, alles existiert nebeneinander. Ein bisschen Freud, ein bisschen amerikanischer Traum, ein bisschen Paranormalität (in anderen Worten Vormoderne). Das Besondere ist vielleicht, dass sich in Hoia Baciu alles überlagert und sich nicht gegenseitig verdrängt.

Auch Alex, der so rational argumentiert, hat einen Rest von Aberglauben. Er gehe nie zweimal an einem Tag in den Wald, weil er das ihm wohlwollende Schicksal des Waldes nicht herausfordern wolle, sagt er. Pläne, den Wald weiter touristisch zu erschließen, hat er trotzdem. Gerade ist er dabei, Karten zu produzieren, mit denen Besucher sich im Wald selbst orientieren können. Außerdem hat er die Idee, einen ökologisch nachhaltigen Themenpark aufzubauen, zu dem auch ein Zentrum gehören soll, das sich wissenschaftlich mit den Phänomenen des Waldes auseinandersetzt.

hoi_6Als er diese Idee vor kurzem öffentlich äußerte, meldete sich der Präsident der Parapsychologischen Gesellschaft Rumäniens, Adrian Pătruț, zu Wort. Adrian Pătruț, selbst eine Legende, hat Hoia Baciu jahrzehntelang untersucht und ein umfassendes Foto- und Geschichtenarchiv zusammengetragen. Er hat immer wieder selbst Erscheinungen gehabt und in Interviews ausführlich darüber berichtet. Nun warnt er vor der touristischen Öffnung des Geisterwaldes: Der Wald werde seine paranormalen Aktivitäten einstellen, wenn zu viele Menschen kommen. Durch die zu starke Stimulation, die sich aus der Interaktion mit den Erwartungen der Besucher ergibt, werde der Wald zum Schweigen gebracht. Pătruț bezeichnet das als Mimoseneffekt. Eine Kraft wie die, die in Hoia Baciu zugegen ist, fürchtet sich, öffentlich gemacht zu werden. Sie wird verschwinden, prophezeit er, und an einen anderen Ort ziehen.

Die Sorge von Adrian Pătruț lässt sich gut begreifen. Wie ein Ethnologe, der die von ihm untersuchten, fern der Zivilisation lebenden letzten Ureinwohner vor dem Einbruch der Welt schützen will, so versucht er, Hoia Baciu zu schützen, als Ur-Wald und Refugium des Alten, Schrägen und Geisterhaften, jenseits der Vernunft. Parapsychologie ist genau das, denke ich. Ein Nebeneinander von Psychologie und Aberglaube, also der Psychologie eines modernen und eines archaischen Verständnisses. In der Synthese dieser beider Vorstellungen ist Hoia Baciu ein großes Unbewusstes, ein jahrtausendealtes Unterbewusstsein als Wald. Ein Ort, wo der Geist des Menschen auf sich selbst trifft und auf den Geist und die Geister anderer. Ein Geisterwald eben.

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Der Akku meines Handies, frisch aufgeladen, war mit dem Betreten des Geisterwaldes übrigens augeblicklich leer. Aber weil es mein altes Nokia war, und der Akku nicht mehr 100%ig funktionierte (normalerweise jedoch immer mindestens vier Stunden hielt) kann diese Beobachtung hier nicht als wissenschaftliche herangezogen werden

 

 

 

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Phänomene

Auf jeder Reise gibt es etwas, das man immer als erstes sieht, überall. Das Auge sucht es nicht bewusst, es springt ihm, wie man sagt, hinein. Man kann, nachdem man es das erste Mal gesehen hat, nicht mehr sagen, ob es, da man es weiterhin sieht, besonders hervorsticht, oder ob das Auge es aus einer Art Wiedersehensfreude immer wieder in den Blick nimmt. Auf dieser Reise waren es Menschen in Fenstern, die sich herauslehnen oder hinter der Scheibe zu sehen sind. Alle Menschen, die sich aus Fenstern herauslehnten oder hinter Scheiben standen, schienen mir besonders. Vielleicht lag es an den alten Fenstern oder an der Patina der pastellfarbenen Fassaden von Sibiu, die die Menschen und ihre Gesichter wie Gemälde umrahmen .

Davor hatte ich Hunde gesehen, eine ganze Weile auf allen Reisen immer zuerst Hunde. Hunde, die zusammengerollt auf Bahnsteigen schliefen oder müde an Straßen entlangliefen. Hunde, die mit geducktem Kopf über Marktplätze schlichen. Wenn ich mich versuche, an einen Ort zu erinnern, fällt mir als erstes der Hund ein, den ich dort gesehen habe. Der Hund in Žabljak, der uns um den Schwarzen See herum folgte und dessen Magen beim Laufen gluckste. Der Hund in Belgrad auf der grünen Verkehrsinsel, der immer im Kreis lief, weil es unmöglich war, den vierspurigen Kreisverkehr zu überwinden. Der sterbende Hund in Ulcinj, der sich unter einem SUV verkrochen hatte, der Hund im Aquarium in einem Zoogeschäft nachts in Tirana.

Denke ich an Sibiu, sehe ich ein Rudel vor mir, das immer gemeinsam durch die Unterstadt zog wie eine Bande wilder Teenager. Erst mit den Hunden entsteht die Landschaft oder die Stadt in meiner Erinnerung, wie eine Foto-Leinwand entrollt sie sich in dem Moment, in dem mir der Hund einfällt.

Das Auge ist einseitig. Wie ein Fotograf, der an einer Serie arbeitet, sucht es sich Bilder, die zu den schon gesehenen passen. Man hat deshalb oft den Eindruck, unter den gesammelten Bildern ein Phänomen zu erkennen, das für den Ort, an dem man sich befindet, prägend ist. Es ist aber nur eines unter vielen Dingen, die man dort wahrnehmen kann. Die Auswahl ist willkürlich. Das Phänomen prägt zuallererst das Auge und muss mit dem Ort gar nicht viel zu tun haben. Schon immer haben Menschen in Sibiu an Fenstern gestanden oder sich hinausgelehnt, so wie allerorten Menschen an Fenstern stehen und sich hinauslehnen. Aber ich sah sie erst jetzt, in jeder Straße, wie ein Wahrzeichen der Stadt. Doch was für ein Wahrzeichen ist das, das in jeder anderen Stadt auch zu sehen ist?

In Zügen sehe ich immer ältere Männer in Anzügen und Hüten, mit Plastiktüten in der Hand. Oft haben sie spitze Schuhe und manchmal Schnurrbärte. Die Anzüge sind immer verschlissen und haben einen matten Glanz auf den Hosen. Nur im Hintergrund, verschwommen, die jüngeren Männer, in T-shirts und dunklen Jeans mit groben weißen Nähten.

Auf der letzten Reise, im Zug von Sibiu nach Sarata, sah ich die T-shirts klar. Es war sehr heiß, der Zug kroch im Schritttempo auf den von der Hitze verzogenen Schienen. Die Menschen fuhren von der Stadt zurück auf die Dörfer. Durch die Scheiben, die alle Sprünge hatten, sah man auf der einen Seite die Berge, auf der anderen sonnenverbrannte Felder. Die T-shirts der Männer und Frauen hatten Aufschriften: World Down Syndrome Day, Red Hill The Sunset Creek Inc., Summer Mountain, Extreme Bike, Duffy, 1899, Everyone says I’m good, I don’t love you, NYC. Ich hätte jedes gern fotografiert. In der Langsamkeit des Zuges, in der, von den Rissen im Glas in Stücke zerlegt, die Felder, Berge und Wolken vorbeizogen, erschienen sie mir für einen Moment als der wahrhaftigst mögliche Ausdruck dieses Landes und vielleicht eines Reiseberichts an sich.

Reiseberichte als eine Aneinanderreihung der T-shirt-Aufdrucke, die einem begegnen. Das könnte interessant sein, dachte ich.

kind

frau

mann_hut

zug_scheibe

zug_schuhe

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