Ernst

Vitjas Rumänisch hat einen russischen Akzent und andere Ausdrücke, er sagt zum Beispiel două ceausuri statt două ore und problem statt problemă. Wir stehen vor der EU-Grenze in einer langen Schlange, am Zoll ist Schichtwechsel. Die Laster stehen dort wie ein Aufgebot, leicht versetzt in einer geraden Linie, hunderte von Metern. Sie stehen vor einer Schranke, die filigran und machtvoll ist wie ein Mann im Frack vor Elefanten in einer Manege. Die Fahrer lehnen an ihren Fahrzeugen, rauchen und lachen über die langsam umherlaufenden Zollbeamten, die sie warten lassen. Sie kennen die Kraft ihrer Fahrzeuge und es scheint, sie stehen dort aus reiner Überlegenheit und nicht aus Gehorsam.

Vitja hat in Shumen Plastik geladen und ist auf dem Weg nach Galați. Er hat kurz wissen wollen, was in meinem Koffer ist, der groß und schwer ist, droguri?, und ihn dann lachend hochgezogen, in die Schlafkoje hinter den Sitzen. Der Koffer war ein Problem, so kurz vor der Grenze in die EU, wer möchte schon Schwierigkeiten bei der Einreise. Ich konnte jeden verstehen, der abwinkte, alle PKW-Fahrer. An die LKWs traute ich mich erst nicht heran. Autofahrer sind Leute wie du und ich, aber Fernfahrer sind wie Cowboys, mythische Gestalten. Nomaden, einsam und unruhig. Sie treiben über Land wie Matrosen über See, sehnsüchtig, gefährlich.

Man wurde schon als Kind vor ihnen gewarnt, was sie so interessant gemacht hat, interessanter als Lokführer oder Piloten, die auch weite Strecken zurücklegen. Fernfahrer kommen einem immer noch unabhängiger vor, auch wenn sie sich ihre Routen genauso wenig aussuchen und wahrscheinlich so enge Zeitpläne haben wie Paketzusteller. Aber das ist egal, es geht um das Fahren, das einsame Fahren auf nächtlichen Straßen, die Weite stumm durchmessend.

Das Einsteigen in einen Truck ist schon glorios, wie man sich emporschwingt auf zwei oder drei Meter Höhe. Man hat es in Roadmovies so oft gesehen, dass es schwer ist, sich dabei real zu fühlen. Und aus einem Grund, der nicht zwingend logisch ist, macht das Gefühl, in einem Film zu sein, besonders lebendig. Das ist eigentlich merkwürdig. Man könnte sich auch weniger authentisch fühlen, weil der Film das Leben nur nachspielt. Stattdessen ist es das Gegenteil, das Banale verschwindet, das Licht und die Dialoge werden besser,  so scheint es zumindest, man kann es nicht nachprüfen, denn diesen Film bekommt man ja nie zu sehen.

Vitja fährt meist nach Bulgarien, Russland, Weißrussland und in die Ukraine, seltener nach Italien und Frankreich. Am liebsten nach Weißrussland, er mag die Weißrussen, die Russen überhaupt. Die Rumänen mag er nicht, obwohl sie ihm nie etwas getan haben. Er kommt aus Moldova. Würde Moldova heute lieber zu Rumänien gehören, also zur EU, frage ich und Vitja sagt, die Jüngeren wollen, die Älteren nicht. Was sollen wir mit der EU, Konzerne ins Land lassen? Arbeitslosigkeit haben wir jetzt schon. An Auswandern hat er nie gedacht, Moldova ist seine Heimat, er hat ein Haus, zwei Kinder, geht zur Jagd, zum Fischen. Er zeigt mir riesige Einweckgläser mit Wildschwein, die er in einem Fach über den hinteren Reifen lagert und dazu die Fotos von den erlegten Tieren auf seinem Smartphone.

Vitja kennt alle Zollbeamten beim Vornamen, ich darf deshalb ihre Toilette benutzen und in ihre Büros schauen, in denen sie vor kleinen Bildschirmen sitzen und Kaffee trinken. Die Rumänen arbeiten nicht gern, sie delegieren die Arbeit lieber, sagt Vitja. Die neue Schicht sollte eigentlich um acht ihren Dienst beginnen, um neun passiert immer noch nichts. Das ist immer so, sagt er. Seit sie zur EU gehören, fühlen sie sich als etwas Besseres.

Ich frage Vitja nach den Russen und Putin, aber er möchte lieber über Ernst reden. Ernst ist Vitjas Schwager. Er ist Österreicher und lebt in Wien, mit Vitjas Schwester. Sie hat ihn an einer Tankstelle kennengelernt, nachdem ihre Mutter, die in Wien als Putzfrau arbeitete (Putzfrau sagt Vitja auf Deutsch), sie nachgeholt hat. Ernst arbeitet an der Tankstelle. Errrnst, sagt Vitja, und fasst ihn in einer anderen Tonlage, wie mit spitzen Fingern. Als ich ihm sage, was Ernst bedeutet, serios, findet er das passend. Ihr Deutschen (darunter fasst er auch die Österreicher), ihr scherzt nicht, nie, sagt Vitja, ihr nehmt alles ernst. Er macht ein ernstes Gesicht für ein paar Sekunden, dann lacht er schallend.

Ernst war zweimal in Moldova, das erste Mal fuhr er in ein Schlagloch, die Felge oder irgendetwas am Reifen war kaputt, und Ernst hatte kein Werkzeug im Auto, obwohl er an einer Tankstelle arbeitet, nicht mal einen Ersatzreifen. Wenn Ernsts Auto kaputt ist, ruft er eine Nummer an, und das Auto wird abgeholt, egal wo, sagt Vitja. Das zweite Mal stellte Ernst den Wagen vor Vitjas Haus ab, unabgeschlossen, so wie er es in Wien macht, auch sein Haus schließt Ernst nicht ab. Das Auto wurde geklaut und an der französischen Grenze identifiziert, Ernst musste es dort abholen. Vitjas Schwester hat ihm dafür eine Tracht Prügel verpasst. Wirklich geschlagen, frage ich, wohin denn? Moldavische Frauen sind so, sagt Vitja, und lacht. Auf den Kopf natürlich.

Ernst ist eine Witzfigur, wie bei uns die Ostfriesen, denke ich, es gibt wahrscheinlich hunderte von Witzen in Moldova, über Österreicher und Deutsche. Über ihre Kleingeistigkeit, Naivität und Unfähigkeit in praktischen Dingen, mit der sie im Osten ständig auf die Fresse fliegen. Săracul Ernst, sage ich, armer Ernst und Vitja kann sich nicht halten vor Lachen.

Er selbst war schon vier oder fünf Mal in Wien, für jeweils zehn Tage. Es war langweilig. Angeln darf man nicht, einmal kam die Polizei und hat ihn verwarnt. Ein anderes Mal wollte er Borschtsch kochen, für die ganze Familie, und ist in einen Supermarkt gegangen, um Rotkohl zu kaufen. Er hat keinen gefunden, nur tiefgefroren, la pachet. Bei uns liegt der Rotkohl so im Geschäft, wie er aus der Erde kommt, sagt Vitja, riesige Kohlköpfe, normal. Was ist das, Rotkohl in kleinen Eiswürfeln, was macht ihr damit? Für Borschtsch braucht man einen ganzen Kohl, sagt Vitja, und wer weiß denn, wie viele tiefgefrorene Pakete ein Rotkohl sind.

Mittlerweile sind wir x-mal ausgestiegen, haben Kaffee getrunken, fast drei Stunden lang. An der Grenze passiert nichts, nur das Licht verändert sich, die Sonne geht unter. Polizisten und Zollbeamte gehen hin und her und sortieren sich in langsam steigender Spannung, wie vor einem Match, das nie losgeht, immer ist nur eine Mannschaft da. Erst steht die Polizei bereit, aber der Zoll nicht, dann sitzen die Zollbeamten in ihren Häuschen, aber die Polizei fehlt. Es wirkt lustlos, niemand will beginnen. Vine poliția, pleacă vama, vine vama, pleacă poliția, sagt Vitja, das ist das Spiel. (Kommt die Polizei, geht der Zoll, kommt der Zoll, geht die Polizei).

Dann endlich geht die Schranke hoch und Vitja reicht dem Polizisten seinen Pass. Darauf habe ich gewartet. Ich stehe neben der Fahrertür und sehe, wie der Polizist den Pass durchblättert, bis zu der Seite, hinter der es sich wölbt. Er stoppt, automatisch, und wendet sich ab. Er nimmt die drei Euro heraus, die dort immer bereitliegen, bei jedem Grenzübergang, nach Rumänien, Moldova, Russland, Weissrussland, in die Ukraine, der Tarif ist immer ungefähr gleich, sagt Vitja. Nur in Frankreich ist er einmal festgenommen worden, wegen Bestechung, aber ich frage mich, wie er dort drei Euro in seinen Pass hat stecken können, in Münzen? Der Polizist gibt Vitja seinen Pass zurück, dann fahren wir zum nächsten Häuschen, wo es eine Menge Papiere auszufüllen und zu zeigen gibt, und dann sind wir in der EU, in Rumänien.

Jetzt fahren wir. Der Mittelstreifen, der im Roadmovie unbedingt zu sehen sein muss, wie er sich in der Geschwindigkeit zu einem langen weißen Band ausrollt, ist in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Vitja fährt schnell, und der Laster scheint von selbst noch an Fahrt aufzunehmen. Nach einer Kurve tauchen zwei Gestalten am rechten Straßenrand auf und Vitja gibt Gas und flucht, verdammte Zigeuner. Entschuldigung, Indiennes, sagt er, so nennt man sie ja heute. Um einen überfahrenen Fuchs, dessen Innereien in der Dunkelheit farbig leuchten, macht er dagegen einen Schlenker, und erzählt von dem Schäferhund, den er zu Hause hat, der beißt, auf Zuruf. Das Fahren, das lange Warten vorher oder die Nacht setzen Gedanken aus der Tiefe frei, die wüst hervorkommen. Es sind Gedanken, die nachts und auch tagsüber in Kneipen tausendfach ausgesprochen werden, in Russland, Weißrussland, Österreich, Deutschland und überall sonst in Europa.

Es ist gar kein Film. Es ist der ganz normale Alltag. Und als ich denke, das ist doch eine gute Erkenntnis der Geschichte, sehr interessant, wird es gefährlich. Der Laster hat gehalten, der Motor ist aus, in einer Gegend in Galați, die verlassen aussieht, Industriegebiet wahrscheinlich. Vitja sagt, das ist ein guter Platz zum Schlafen. Aber zu gefährlich, um auszusteigen, deshalb soll ich dableiben. So kann jetzt die Geschichte natürlich nicht ausgehen, die Angst davor schnürt mir die Kehle zu. Mehr Wut, Wut, darüber, dass sich ein so elendes Klischee in diese Geschichte drängt und in mein Leben, was ein und dieselbe Sache ist, das spüre ich jetzt. Erschütternd, wenn die Warner recht behalten, die doch niemals etwas aus Erfahrung wissen, sondern nur aus Angst. Das ist die falsche Geschichte. Ich weiß nicht, wie ich aus ihr herauskommen und sie beenden soll, sicher nicht mit einer Moral.

Es ist aber nicht so, dass Vitja mit Zentralverriegelung die Knöpfchen nach unten fahren lässt, wie ich es vor mir sehe. Er sagt einfach, ich soll dableiben und nicht aussteigen, weil es zu gefährlich ist. Und nachdem ich eine Weile still dagesessen habe, öffne ich die Tür und lasse mich nach unten gleiten. Und Vitja reicht mir meinen Koffer und den Rucksack und die Kamera und ich gehe die einsame, dunkle Straße hinunter, und als vom Lärm des Rollkoffers die Hunde erwachen, die unter den Sitzen einer ehemaligen Bushaltestelle geschlafen haben und laut bellend auf mich zuspringen, hebt Vitja, zu dem ich mich erschrocken umdrehe, hinter der Windschutzscheibe die Hand, wie um mich durchzuwinken. Einfach weitergehen.

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Im Osten Europas sind die besten Sehenswürdigkeiten nie ausgeschildert. Man muss sich also keine Mühe geben, Karten oder Reiseführer genau zu lesen. Die orthodoxen und katholischen Kathedralen lassen sich nicht übersehen, so mächtig und hoch ragen sie heraus, die evangelischen und unierten Kirchen, sachlich und kleiner, verstecken sich mitunter, man findet sie aber dennoch, wie Synagogen und Moscheen, falls es sie gibt, auf zufälligen Wegen.

Marktplätze ergeben sich von selbst, wie Rathäuser, Bronze-Statuen und Parks. Ein herrschaftliches Hotel, in dem die Staatshäupter und demimondes des 19. Jahrhunderts abstiegen, liegt immer an der Flaniermeile, und viel mehr führt so ein Reiseführer gar nicht auf.

Kirchen werden am ausführlichsten beschrieben. Das könnte durch die wichtige Rolle, die sie in diesem Teil Europas heute noch spielen, erklärt werden (in Rumänien lag die Anzahl von Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen, 2002 bei weniger als 0.1 Prozent), allerdings wenden sich die Reiseführer, also die deutschsprachigen, die ich habe, an eine westliche, deutsche Leserschaft, und da scheint die Dominanz der Kirchen ein wenig, ja, weltfremd. Es werden zwar weniger religiöse als architektonische Argumente aufgeführt, die allein Kirchen mehrere Seiten Text inklusive Skizzen einräumen, aber architektonisch interessant sind auch viele andere Bauten. Für alles, was ab dem 20. Jahrhundert, speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, gibt es seltsam blinde Flecke.

Um diese zu entdecken, empfiehlt es sich, ganz ohne Ziel und einfachen Alltagsbedürfnissen folgend, eine Stadt zu erkunden. Da die Moderne sich für alles interessierte (in einem anderen Maß gilt das auch für den Kommunismus) – Freizeit, Sport, Wohnen, Arbeit – kann man auch überall Entdeckungen machen: An Sportplätzen, Krankenhäusern, Fabriken und so weiter. Die Entdeckungen kommen auf einen zu, gerade wenn man nicht sucht. Das ist sehr praktisch. Man geht zum Beispiel zur Post und findet dort – einen Palast!

Das ist nur ein bisschen übertrieben. Die Post in Odessa, von außen unscheinbar, hat das Interieur eines fürstlichen Theatersaals, wenn man von den Fliesen und den Postschaltern absieht. Innenbalkone, Fresken, eine gemusterte Glasdecke und die schiere Größe geben dem Ort etwas Feierliches. Im Reiseführer fehlt jede Information über das Gebäude, wann es errichtet wurde, ob es einmal etwas anderes beherbergt hat als die Post oder tatsächlich für diesen Zweck erbaut wurde. In seiner pompös klassizistischen Ausstattung ist es jedenfalls eine herrliche Gegenversion zu den Amtsstuben, die Poststellen hierzulande sind. Das Herz der Stadt, schreibt ein Besucher auf Tripadvisor, und so war es vermutlich einmal. Das fühlt man noch, auch wenn nur vereinzelt alte Damen und Touristen es heute beleben.

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Eine weitere Entdeckung mache ich in Galați. Hinter dem Bahnhof befindet sich der Busbahnhof, von dem ich aus Odessa kommend weiter nach Bukarest fahre. Busbahnhöfe sind die hässlichen Stiefschwestern von Bahnhöfen. Sie werden hinter ihnen versteckt. Hinter den um Glanz bemühten Fassaden der Bahnhöfe liegen Busbahnhöfe wie Favelas, sich selbst überlassene Ansammlungen von Kioskbuden, stinkenden Wartehallen und Toiletten. Orte für die Armen. Wer sonst würde sich dort aufhalten? Die Ober- und Mittelschicht fährt Auto, und so sind es Alte, Betrunkene, abgerissene Gestalten, die dort stehen, ein paar Jugendliche dazwischen.

Nur in Galați ist das anders. Galați, in dem sich nicht viel mehr entdecken ließ als die Monokultur der Wohnblocks, wartet bei der Abfahrt mit einer Überraschung auf. Hinter dem Bahnhof erhebt sich ein futuristisches Ding, das ich erst nach Einholen geometrischer Begriffen so beschreiben kann: Ein parabolisch in sich verschachtelter Zylinder, der von weitem aussieht wie ein zum Sprung ansetzender Grashüpfer.

Innen dagegen, das ist die nächste Überraschung, ist es wie in einer Kapelle, hoch und weit. Licht strömt durch die Fensterfront und malt Muster auf den Boden, mit einer Kraft, die mir so nur einmal im Pantheon in Rom vorkam. Heilig. Ich stehe inmitten des Lichtkegels, um sieben Uhr früh, allein am schönsten Busbahnhof Europas.

Die Decke ist ein großes Facettenauge. An einigen Fenstern sind Kreuze zu sehen, so dass ich denke, dies könnte tatsächlich ein sakraler Bau gewesen sein, der, das geschah ja häufig im Kommunismus, umgewidmet wurde. Paläste wurden zu Sanatorien, Kirchen zu Turnhallen – vielleicht auch zu Busbahnhöfen. Es ist mir in dem Moment nicht klar, was es sein soll: Eine Verhöhnung des Religiösen? Oder der Versuch, einen profanen Ort aufzuwerten? Also eine Art Kathedralisierung des Alltags?

Die Geschichte des Busbahnhofs in Galati lässt sich leicht erforschen: Er wurde 1970 gebaut, in der sogenannten Goldenen Epoche der Ceaușescu-Jahre. In Anwesenheit lokaler Persönlichkeiten feierlich eröffnet, sollte er „durch die Schönheit seiner außergewöhnlichen Architektur in vollster Weise den Wunsch nach Entwicklung des Autobus-Reiseverkehrs befriedigen“. Bis zu 3000 Reisende sollte der Bahnhof pro Tag bewältigen können, in den Hochzeiten 500 pro Stunde. Hier am Busbahnhof begann man den täglichen Weg zur Arbeit oder traf aus den umliegenden Ortschaften ein, um weiter zum Hafen oder in die Fabriken von Galați zu fahren. Und hier sammelte man sich abends und wartete, gemeinsam nach Hause zu fahren. Der Busbahnhof war ein wichtiger Ort. Nicht nur als Symbol der mobilen Arbeiterschaft, auch für die Menschen selbst.

Was immer man davon hält, die Bedeutung ist noch heute zu spüren. Und der Busbahnhof ein Denkmal, das verdient, erhalten und beschaut zu werden. Leider zählt es offiziell nicht zum Kulturerbe und hat eine schlechte Lobby in Rumänien. Ein ähnlicher Busbahnhof, der ebenfalls 1970 in Focșani gebaut wurde, wurde 2010 abgerissen. Das Gelände, zunächst von einem ehemaligen Buchhalter der kommunistischen Transportgesellschaft I.T.A. erworben, wurde an LIDL & Schwarz veräußert, das den Bahnhof abräumen ließ, um einen Supermarkt zu bauen. Der Busbahnhof Focșani, auf dem Altar des Kommunismus kapitalistischen Interessen geopfert, heißt es in einem Artikel.

Ich kann Reisenden nur den Rat geben: Besucht weniger Kirchen und mehr Busbahnhöfe.

Und geht nicht zu LIDL!

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Historische Ansicht aus: Autogara Metropoli – http://autogarametropoli.ro/

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Notizen aus Odessa II

Odessa am Sonntag:

Die Verklärungskathedrale weit wie eine Bahnhofshalle, mit weißem Marmor oder Alabaster, schlicht im Verhältnis zur sonst so verschwenderischen Orthodoxie. Vor dem weißen Hintergrund sind die goldenen Ikonen besonders schön, das Blau und Rot der Gewänder. Nur am Rand sitzen ein paar Frauen, mit Kopftüchern, die ihnen sofort das Aussehen der Vorstädte und Dörfer geben, etwas Geducktes, im Urbanen Fremdes. Gleichzeitig sehen die Frauen damit so sanft und heilig aus…

Vorn der Pope und eine Gruppe von Frauen, die geduckt und mit gesenkten Köpfen vor ihm stehen, in einer Haltung von müden Pferden in der Sonne, ergeben wartend. Der Pope singsangt, die Frauen antworten vielstimmig singend als Chor, der Pope breitet ein Tuch über ihre aneinandergeneigten Rücken, die Stimmen klingen wunderschön, ein archaischer Vorgang von Zeichen, die ich nicht lesen kann.

Im Gang ein Mann in Adidas-Jogginganzug, den Blick nach oben, die Hände ineinandergefaltet; die Menschen schlüpfen hier in fremde, ihnen bekannte Rollen, die sie am Ausgang, nach wiederholter Bekreuzigung, ablegen.

Draußen Souvenirstände, Gesticktes, Matruschkas, Magneten mit odessitischen Ansichten, Ketten, Anhängern, Matrosenshirts „I Love Odessa“, Aquarelle.

Genauer hingesehen, die Verzierung der Fassaden: Fenster gestützt von pummeligen Cherubim, Frauen, nackt, Männern mit Bärten, Figuren mit Löwenköpfen und einem Körper mit Brüsten, und Männer, die die Zunge herausstrecken und mich an den Grünen Mann von Reichesdorf erinnern.

Die römisch-katholische Kirche: Dunkel, die Decke niedriger, man kommt mit den Gedanken gleich weniger weit hinaus, ist gefangen in diesem gedrungenen Raum, der nach Weihrauch riecht. Der Priester, in weiß, schwenkt Weihrauch, hebt die Arme, es sieht sehr theatral aus, aber die Stimmen sind hier auch schön und die Devotionalien-Shops gleich innen ins Kirchenschiff integriert, schon während der Messe kann man etwas kaufen.

Die Frauen, sobald sie in die Kirche eintreten, bekommen leidende und hingebungsvolle Gesichter. In der Kirche am Bahnhof neigt sich eine Frau lange an eine Ikone in einem Bild, draußen fährt der Verkehr vorbei, sind Handy-Shops, Werbeplakate von Lenovo, es ist so archaisch…

…als ob die Menschen sich hier zurückziehen, in einen einfachen, vormodernen Raum, in dem es nur feste Rollen, keine Individuen gibt. Die Frauen sind Marien und bitten und vergeben, die Männer hadern, sind in ihren Mienen schwerer lesbar, ihnen fällt die Demut schwerer vielleicht, das Leiden auch, sie sind nicht so sicher in ihrer Rolle wie die Frauen, wirken weniger verwandelt, sind so wie auf der Straße, mit Gesichtern, die nur ein wenig Stille und Demut annehmen. Nicht wie die Frauen, die wie natürlich in diese Gestalt fallen, sie scheint ihnen nah, ersehnt sogar vielleicht; für sie ist es keine Etikette, sie geben ihr Wesen in dieser Rolle ab.

Markt: Menschen vor Unmengen von Obst, Gemüse, Kartons vor und hinter sich, überladen mit Jeans, Shirts, Schuhen, Geschirr, Gebrauchsgegenständen, Schwämmen, Schuhcreme.

Zappelnde, nach Luft schnappende Fische, Krebse, die über die Gefäße krabbeln, eine Halle nur mit Fleisch, weiß gekachelt wie ein Schlachthof und stark riechend, an der Wand gemalte Bilder von Kühen auf der Weide, geführt von Mädgen mit Zöpfen.

Notizen 16.5.2015

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Und die Treppe hatte ich zuerst gar nicht als d i e Treppe erkannt, weil sie nur von unten so monumental aussieht und von oben wie eine ganz normale Treppe. Das liegt daran, dass sie sich nach oben hin verjüngt, unten 21 Meter breit ist und oben nur 13.

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Notizen aus Odessa I

Odessa, 16.5.2015

Staunen beim Einfahren wie bei Mondladung: Es sieht so aus, wie es ausgehen hätte, wenn ich es mir hätte vorstellen können.

Schattige Alleen, die Häuser ausgehendes 19. Jahrhundert, im richtigen Maße renoviert und verfallen, in der Regel also gut erhalten, eine in gedeckten Farben leuchtende Stadt, helles Blau an Häusern, das sich mit weißen Stuck und schmiedeeisernen Balkonen so wunderschön ergänzt, wie beim Museum für westliche und östliche Kunst.

Vor allem die Häuser und die Bäume ziehen die Blicke auf sich: Die mit so viel Pracht verzierten Fassaden (Figuren, Stuck, Balkone, Tore, Türen), gelb, blau, hellgrün, keine Farbverirrungen. Eine unversehrte Stadt, das ist so ungewohnt. Im Bereich des Zentrums fast nur alte oder alt scheinende Häuser, hier ist ein Stil durchgehalten, hier war und ist Geld.

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Ich kann leider nur unzureichend die Art der Verzierungen und Baustile der Häuser beschreiben, mir fehlt ein ganzes Vokabular, und ohne Beschreibung fange ich auch die Schönheit nicht ein, das tut mir leid.

Die Schönheit, die sich aus der Ähnlichkeit der Häuser in Höhe, Bauweise, Farbe ergibt, ist nämlich einzigartig. Ich habe so eine sich von selbst ergebende, in gleicher Anmut nach links und rechts sich immer weiter verzweigende, ohne Pause und Unterbrechung schön seiende Stadt noch nie gesehen.

Auch mit der Kamera lässt sich die Schönheit nicht einfangen, waagerecht in die Straße hineinfotografiert, rücken die Häuser seitlich zu bescheiden in den Hintergrund, die Bäume, zu denen ich gleich noch mehr sage, sind nicht deutlich genug erkennbar, und die Harmonie aller Teile wird durch die Undeutlichkeit aller Teile nur unbefriedigend abgebildet.

odessa7Auch hochkant geht es nicht, weil man so immer nur ein Haus, oder zwei, aber nicht den Eindruck einer Straße erfasst. Und schon der Eindruck einer Fassade oder der Bäume, wie das Auge sie in den Blick nimmt – von unten nach oben gehend – schafft die Kamera nicht mit einem Bild, nur mit einem Schwenk würde es gehen.

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Auch die Proportionen verziehen sich, weitwinklig gerät die Flucht nach oben zu steil, und die Horizontale liegt nicht gerade, auch so kommt die Harmonie nicht zustande. Es gibt nicht den idealen Standpunkt, um den Eindruck, den man hat, einzufangen.

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Erstaunlich sind die Bäume, jede Straße ist mit Bäumen bepflanzt, das trägt entscheidend zum Eindruck bei. Die Bäume, die meist etwas schief stehen, um sich zum Licht zu neigen (oder aus einem anderen Grund), gehören sozusagen zu den Fassaden und verzieren sie zusätzlich als Schräge und durch die Schatten des Blätterwerks. (Das zum Beispiel sehe ich erst richtig auf den Fotos)

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Linden, Akazien, Kastanien, der französische, für den Aufbau der Stadt verantwortliche Architekt (Volant?) [de Voland, die Red.] hat die Bäume pflanzen lassen im ausgehenden 18. Jahrhundert, um für Schatten zu sorgen. Die Stadt ist quasi überdacht. Die Bäume sind hoch und gut gepflegt, sie stehen in rechteckigen, von knöchelhohen verzierten Eisenzäunen umgebenen Erdstücken, die ich einige Bewohner tagsüber gießen sehe.

Überall stehen Blumenkübel. Die Bürgersteige sind eben gepflastert, sehr sauber. Das Kunstwerk der Stadt scheint viel Reinigung und den Respekt der Einwohner zu erhalten. (Keine Kaugummiflecken, keine Zigarettenstummel, wenig Graffitti).

Einige Hunde und Katzen streifen umher. Sie sehen nicht orientierungslos aus und einigermaßen wohlgenährt. Freundlich, nicht aggressiv, anders als in Rumänien. Die Bedingungen scheinen auch für sie gut zu sein, oder die guten Bedingungen lassen sie so erscheinen. (Auch die Hunde flanieren in Odessa, steht im Reiseführer).

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Der Geist von Odessa ist ein vergangener, aber einer von Aufbruch und dem Willen, etwas Besonderes, Einzigartiges zu schaffen, das ist überall zu spüren. Die Stadt war ein Projekt: Als türkische Festung Ende des 18. Jahrhunderts erobert, war Odessa eine freie Stadt, ohne König, mit freiem Handel. Der Hafen ließ viele reich werden und setzte riesige Warenmassen um. Armenier, Juden, Italiener, Franzosen, Russen, Deutsche kamen. Der Typ, der weiß, wie man zu Geld kommt, der Schlawiner, der șmecher, der heute der abgestumpfte, stiernackige Ringer ist, damals hatte er mehr Klasse. Mehr etwas Spitzbübisches, wie in den von Odessa überlieferten Legenden (die Orangen-Legende*; die Stadthalter Potjomkin und Richelieu, die Verhältnisse mit der Zarin Katharina hatten, von ihr begünstigt wurden und die Gunst dann Odessa zuteil werden ließen).

Das atmet die Stadt. Ein Ideal. Ehrgeiz. Etwas Amerikanisches (von unten bis ganz oben ist nicht unmöglich), etwas Verschwenderisches, Europäisches. Dekadenz. Viele Einflüsse von überall her, französische, italienische, holländische Architekten, die besten ihrer Zeit.

Sie wurden nicht gezwungen, hier zu bauen. Hier scheint nichts Zwang, hier sieht man den Gedanken von Freiheit und Harmonie. Von etwas Großem, von Größenwahn auch.“ (…)

Odessa4Odessa5odessa6odessa9odessa10odessa15Odessa3odessa16odessa8odessa17odessa15aodessa19* Die Orangen-Legende (laut Reiseführer):

Als Paul I, Sohn der Zarin Katharina, an die Macht kam, wollte er alle Projekte seiner Mutter stoppen, die er über alles gehasst hatte – vor allem das Projekt Odessa. Als im Jahr 1800 Odessa ein Darlehen von 250.000 Rubel beantragte, um den Hafen auszubauen, ließ er Zeit verstreichen und antwortete nicht. Da ließ die Stadt 3000 Apfelsinen nach St. Petersburg schicken, 3000 Apfelsinen waren im eiskalten St. Petersburg eine Sensation. Paul I gab dem Darlehen statt. Heute erinnert eine große Apfelsine vor dem Archäologischen Museum daran.

 

 

 

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Reni

Eine Reise nach Odessa. Beginnend am Kanal 8 im südlichen Donaudelta, bei träge fließendem Wasser inmitten von Schilf, um sieben Uhr früh. Auf der Karte sieht es einfach aus. Könnte man um die kleinen Seen, die wie Tropfen aussehen, herum- und quer durch das Delta fahren, wären es nur etwa 40 km bis zur ukrainischen Seite, bis Kiliya, und von dort noch einmal etwas mehr als 150 km nach Odessa. Aber es geht nicht dem Finger auf der Karte nach. Es gibt keine Grenzposten in Wasser- und schon gar nicht in Sumpfgebieten, und die nächste Grenze auf festem Boden ist in Galați. Das bedeutet eine Fahrt mit dem Boot nach Dunavățu de Sus, mehrere Stunden Warten auf den Microbus nach Tulcea, einige Stunden Fahrt mit dem Microbus nach Tulcea und einige Stunden mit dem Bus von Tulcea nach Galați.

Ich mag Fahren. Fahren in Bussen kann nicht lang genug dauern. Vorbeigleitende Landschaften und Dörfer können nicht lang genug dauern, das Anhalten und Aussteigen und Einsteigen von Menschen im Nirgendwo, das umständliche Verstauen von Gepäck im Kofferraum. Die geknüpften weißen Kreuze, die an den Rückspiegeln baumeln, die Füße im Gang, in Nylonstrümpfen, geschwollen am Knöchel oder schmal und nackt, mit lackierten und nicht lackierten Nägeln, in Schlappen und nietenbesetzten Ballerinas. Die Plastiktüten im Gang, das Handyklingeln (einer der letzten Sommerhits und immer der alte Nokia-Ton), die Telefongespräche, da, da, da, sunt pe drum. Die Gespräche mit dem Busfahrer, Mitteilungen der Fahrgäste, wohin sie fahren, wen sie besuchen, wie lange sie dieses Mal gewartet haben auf den Bus, gutgelaunte Beschwerden, zu denen jeder etwas beizutragen hat und an deren Ende Gott um Hilfe gebeten wird, kollektiv, nicht um etwas zu ändern, sondern um alles so zu lassen, wie es ist.

Die Hits der 70er und 80er und 90er und von heute. Für Stunden in keiner anderen Aufgabe gefordert zu sein als der, mitzufahren, so reglos wie möglich. C.C. Catch. Links das Meer. We are living in a heartbreak hotel. Rapsfelder. Für Stunden.

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An den Autogarăs in Tulcea, Isaccea, Luncavița ist die Armut besonders sichtbar bei  älteren Männern. Sie sind zu warm angezogen, mit wollenen Pullovern und Hosen, die vom Staub stumpf sind und dabei glänzen, so wie ihre Sakkos, die sie auch bei größter Hitze tragen. Die Hosen sind über die Taille hinaus gezogen, bis unter die Rippenbögen, wo sich die Körper, magere Körper, ein Stück nach innen wölben.

Es ist vielleicht der einzige Anzug, den die Männer haben und den sie zu jeder Jahreszeit tragen, dann, wenn sie vom Dorf in die Stadt fahren, oder wenn Sonntag ist. Das Festhalten an diesem Prinzip, für das vor Jahrzehnten diese Hosen, Hemden, Pullover, Jacken, manchmal Hüte gekauft wurden, die jetzt völlig verschlissen sind, zeigt die Armut, eine Armut, die für die Männer Gewohnheit ist oder auch etwas anderes, als ich mir vorstellen kann.

Von der Donau aus kommend hat Galați von weitem das Panorama einer Kapitale, mit einer Skyline nicht aus Stahl und Glas, sondern Beton. Näher kommend zerfasert der Eindruck von Gefüge, auch der von Größe. Städte, denen man sich vom Wasser aus nähert, richten ihre Architektur vermutlich auf diese Perspektive aus, die man von ein paar hundert Metern Entfernung hat. Galați hat auch, wie alle Städte Rumäniens, die ich in diesem Jahr besuche, einen kleinen historischen Kern, der gerade aufwändig renoviert wird und mit Planen überdeckt ist, auf denen die Häuser in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts abgebildet sind, und die gleichen Bilder hängen in allen Restaurants und Cafés der Stadt, die etwas auf sich halten. Mehr als in anderen Städten, die ich besuche, kreuzen Hunde wie verrückt die Straße, immer zwei oder drei hintereinander, und beschnüffeln sich unter dem Gehupe der Autos die Hintern. So zeigt sich hier der Frühling.

Von Odessa träumt in Galați niemand. Deshalb gibt es keine Busse, nicht einmal welche, die überhaupt über die Grenze fahren, und nur einen Zug, der mit einem Umweg über Chișinău 33 Stunden braucht – nach Odessa, das etwa 300 km von Galați entfernt ist. Verkehrswege zwischen Ländern sind immer nur so gut wie ihre Beziehungen oder ihr Interesse aneinander.

Einen Bus nach Odessa gibt es erst hinter der ukrainischen Grenze, in Reni.

Diese Information habe ich von einem Online-Portal, auf dem Menschen Fragen stellen, zum Beispiel, wie man von Rumänien nach Odessa kommt. Die Antworten auf diese Frage sind weniger Information als Berichte breit ausgeschmückter Abenteuer. Jede Antwort fügt weitere Abenteuer hinzu, während die Information stets ambivalent und widersprüchlich bleibt (zum Beispiel wo und wie oft – täglich oder zwei bis drei mal wöchentlich? – in Reni Busse nach Odessa fahren). Menschen erzählen von Reisen und Grenzüberfahrten wie von einem rite de passage, dessen Geheimnis sie für sich behalten.

Das Geheimnis von Grenzen. Am nächsten Morgen stehe ich mit einem Taxifahrer und einem Freund, den er mitgebracht hat, am Grenzposten, zehn Kilometer von Galați entfernt. Der Taxifahrer und der Freund sind sich nicht einig, welches Land dahinter beginnt. Sie sind aus Galați, aber sie wissen es nicht. Ist es die Ukraine, wie der Taxifahrer und ich glauben, oder Moldova, wie der Freund sagt? Wir fragen den Grenzer. Es ist die Republik Moldova. Ein schmaler Streifen trennt seit 1991 Rumänien und die Ukraine, knapp zwei Kilometer breit an dieser Stelle. Jetzt gibt es zwei Grenzen, hintereinander.

Regeln, die immer anders und nicht zu begreifen sind (die erste Grenze darf man nicht zu Fuß überqueren, die zweite schon), Rituale von Macht und Ohnmacht, nach denen geprüft und durchgewunken und festgehalten wird, die Beobachtung, dass das Land, in das man eintritt, die Erde, die Bäume, die herumstreunenden Hunde, nicht anders aussehen als in dem Land, das man hinter sich lässt.

Grenzen machen mir dünne Nerven. Grenzen sind Grenzen, sagt der Taxifahrer, der die Grenze nicht überqueren darf, weil er keinen Reisepass hat, und winkt heranfahrenden Autos, die mich mitnehmen sollen, und ein paar Minuten später steige ich auf die Rückbank eines Dacia zwischen zwei Männer mit müden Gesichtern und Händen, die aussehen wie mit Luft gefüllt, schwarz und geschwollen von Arbeit. Die Männer sind aus Giurgiulești, dem ersten Ort hinter der Grenze. Im Kofferraum liegt mein Koffer auf Säcken von Zement und Hühnerfutter.

Am nächsten Grenzposten muss ich aussteigen und erklären, warum in meinem Pass als Wohnort Berlin, als Ort der Ausstellung des Passes aber Freiburg eingetragen ist. M-am mutat de la Freiburg la Berlin, Freiburg nu-i bun, sage ich, und die Frau nickt, und ich darf weiter. Zu Fuß, ein Kilometer durch Moldova. Grenzland, Niemandsland. Ich drehe mich immer wieder um, aber da ist nichts, weder Autos noch Fußgänger. Ich habe Angst wie in einem Traum. Ich werde verfolgt, oder ich komme niemals an, oder es ist niemand da außer mir, oder ich bin niemand. Ein Gefühl, als seien Gewehrläufe auf mich gerichtet und die Konzentration von Menschen, die mich beobachten. Aber es ist nur meine eigene.

Die ukrainischen Grenzer wollen in meinen Koffer schauen und wissen, ob ich nur zu Besuch komme, oder was ich vorhabe und wie lange ich vorhabe zu bleiben. Dann bekomme ich einen Stempel und bin in der Ukraine. Jetzt geht es leicht. In der Schlange von Autos geht eine Tür auf und ein Mann winkt mich heran. Reni, frage ich, und der Mann nickt und stellt ohne weitere Fragen meine Sachen in den Kofferraum. Hinten sitzen zwei Kinder, das beruhigt.

Boris ist auch aus Giurgiulești. Er fährt zum Einkaufen die acht Kilometer nach Reni, Lebensmittel und Werkzeuge sind billiger in der Ukraine als in Moldova. Er arbeitet in Giurgiulești am Hafen, sein Sohn auch. Sie haben Mittagspause. Der Sohn ist um die Zwanzig und macht ein Fernstudium, irgendwas mit Kommunikation, die Tochter auch. Es gibt noch eine fetița zu Hause, zwei Jahre alt, Boris selbst ist Jahrgang ’70. Ich habe ihn auf 50 geschätzt.

Boris fährt mich zum Busbahnhof von Reni, wo gleichzeitig auch Markt ist. Ich muss Geld tauschen, und Boris nimmt mir die Kamera und die Tasche aus der Hand und winkt mir, ihm zu folgen. Der Koffer ist im Auto. Alles sicher, sagt Boris, aber ich mache mir nicht darum Sorgen, sondern um seine Kinder, die er warten lässt. Schwarz auf dem Markt kann das Geld nicht gewechselt werden, weil ich nur rumänische RON habe, weder Euro noch Dollar. Boris ist in Eile und schwitzt, aber es ist gegen sein Prinzip, mich hier allein zu lassen. Ohne Russisch sei es unmöglich, nach Odessa zu fahren, sagt er. Ich dürfe auch mein Portemonnaie nie so in den Händen tragen wie jetzt. Odessa e mama Mafiei, Odessa ist die Mutter der Mafia. Er fragt, was ich dort mache, ob ich jemanden dort kenne. Es bewegt ihn und wundert ihn, und mich jetzt auch, wie man so naiv und informationslos in ein fremdes Land reisen kann.

Boris‘ Prinzip kommt aus der Bibel. Fă bine, tue Gutes. Er bezieht daraus eine archaische Freundlichkeit, in der gläubige Menschen immer ein wenig naiv wirken und wie aus der Zeit gefallen. Ich denke später im Bus darüber nach, nachdem Boris noch eine Stunde mit mir durch Reni gelaufen ist, auf der Suche nach einer Bank, die meine deutsche EC-Karte akzeptiert (bei Raiffeisen klappt es schließlich).

Altruismus, denke ich, ist immer auch Egoismus, es gehört zu einem guten Selbstbild, dass man anderen hilft und man würde sich quasi selbst beleidigen, wenn man es nicht tut. Da Altruismus hier, in der Ukraine, Moldova, Rumänien, noch stark religiös verankert ist, würde man aber nicht nur sich selbst beleidigen, sondern Gott. Anderen zu helfen ist tatsächlich noch ein religiöses Gebot. Es zu befolgen hat also nur insofern etwas Egoistisches, als dass man fürchtet, ein Nichtbefolgen des Gebots könnte böse Folgen für einen selbst oder die Familie haben. Vielleicht geht aber diese Einsicht, von meinem nüchtern-säkularen Standpunkt aus gedacht, schon weit an dem Impuls vorbei, mit dem ein Mann wie Boris mit einer Fremden eineinhalb Stunden durch die Stadt läuft, um sie in einen Bus nach Odessa zu setzen.

Am Stadtausgang von Reni hält der Bus am Café West, dann fährt er über Land, und die Rapsfelder vor dem türkisfarbenen Himmel sind wie die ukrainischen Nationalfarben. Dazwischen Wiesen, mit einem Grün, das nur der Frühling hat, fast neonfarben, besonders in den frischen Blättern der Bäume. Die Farben scheinen ins Gras und in die Felder zu fließen, wie auf einem schief gehaltenen Bild versammeln sie sich hier, leuchtend, während sie dann in den Dörfern fehlen. Dort ist die Farbe der Häuser verblichen, grauer und brauner Putz, ein wenig Blau an Zäunen und Dachfirsten. Und aus diesem blassen Gefüge erheben sich, plötzlich nach einer Kurve, die goldenen Kuppeln der Kirchen, unwirklich und strahlend wie Jeff-Koons-Figuren. In jedem grauen Dorf auf einmal dieses unfassbares Strahlen.

Mai 2015

west

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Die beste Erfindung/ Schreiben I

Wenn ich schreibe, denke ich nicht an Menschen, die ich kenne, denen der Text gefallen könnte oder nicht, was so oder so eine Einschränkung ist. Ich denke an den unbekannten Freund in der Zukunft.

Der unbekannte Freund ist mir wohlgesonnen und an allem interessiert, was ich tue. Das Interesse rührt daher, dass er in der Zukunft lebt und die Welt nicht kennt, wie sie heute ist. Er hat eine Ahnung, aus der Zukunft heraus, aber er weiß nichts Genaues. Daher möchte er alles wissen. Wirklich alles. Die kleinsten Details, die mir selbst unwichtig erscheinen, findet er interessant und nie etwas schlecht; gut und schlecht sind nicht seine Kategorien. Er freut sich über jede Nachricht, die ich schreibe.

Die Verbindung zwischen mir und dem unbekannten Freund ist exklusiv, ich bin sein einziger Informant. Ich liefere ihm alle Informationen first hand. Das ist die Vereinbarung.

Der unbekannte Freund in der Zukunft wertet die Informationen nicht, aber er verlangt, dass sie genau sind. Genau meint vor allem wahr. Wahr ist ein schwieriger Begriff, aber für den unbekannten Freund meint er vor allem ohne Rücksicht.

Rücksichtsvolle Beschreibungen halten den unbekannten Freund auf. Ich spüre ihn bei bestimmten Worten stutzen, niemand anders würde daran etwas bemerken, aber der unbekannte Freund schon. Ich habe dann ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Ich habe aber auch ein schlechtes Gewissen gegenüber den Dingen und den Menschen, die ich beschreibe. Besonders die Menschen stehen den Interessen des unbekannten Freundes oft im Weg. Ihre Interessen oder meine Interessen ihnen gegenüber. Es ist nicht möglich, ihnen allen gerecht zu werden. Im Versuch darin wird man ungenau. Rücksichtsvoll.

Rücksichtsvolle Beschreibungen umgehen das Beschriebene. Als Informant des unbekannten Freundes bin ich aber der genauen Beschreibung verpflichtet, der das Interesse des Beschriebenen unterzuordnen ist. Das ist Vereinbarung. Dieser Aufgabe werde ich nicht so gut gerecht, wie ich möchte. Sie ist auch eine Bürde.

Ohne den unbekannten Freund in der Zukunft hätte ich nichts zu erzählen. Jeder Satz wäre lächerlich, allein die Idee, etwas schreiben zu wollen. Für wen denn, frage ich mich und weiß, dass sich andere das auch fragen. Wen kann das interessieren? Schreiben ist peinlich. Es ist eine große Mühe, sich darüber hinwegzusetzen, und ohne den unbekannten Freund wäre das nicht möglich.

Es ist auch wichtig, dass er unbekannt ist. Ansonsten hätte ich ja ein Interesse an ihm und er an mir. Aber der unbekannte Freund ist das interesselose Wohlgefallen in Person.

Ich sehe sein milchiges freundliches Gesicht wie hinter einer zerkratzten Glasscheibe, irgendwo in der Ferne. Es zwinkert mit langsam schließenden Lidern, wenn ich lange nichts geschrieben habe, zur Aufmunterung. Es wartet, mir zugewandt, geduldig aber beharrlich. Streng am Ende, denn ich schulde ihm etwas. Ich schulde ihm all die Informationen, die es für ihn zu ordnen gilt. Es ist unvorstellbar, sie ihm vorzuenthalten.

Der unbekannte Freund in der Zukunft ist die beste Erfindung der Welt. Was wird denn anderes bleiben als das, was ich ihm erzähle.

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Dunavat

Beim Reisen ist die Entscheidung für den Ort, an den man fährt, im Grunde willkürlich. Man kann eine Schwäche für Italien oder Asien haben, einen kann es eher nach Afrika oder Südamerika ziehen, man weiß nicht, warum. Vielleicht hat man etwas gelesen oder Bilder gesehen oder eine Idee oder ein Gefühl. Man muss sich nur irgendwo hinwenden, die Welt gibt die Orte vor. Sie sind eingezeichnet, auf Karten; Länder, Städte, Dörfer, Straßen, Cafés, Schwimmbäder, Museen, Wohnhäuser, Wanderhütten, Wanderwege. Lauter Zielpunkte. Man kann gelben oder roten Adern folgen. Schwarzweißen Schienen, scenic routes. Alles ist vorgegeben. Alles hat seinen Platz.

Es scheint so selbstverständlich, dass man sich nicht vorstellen kann, dass es einmal anders war. Dass es einmal keine Wege gab und keine Orte. Aber so war es einmal, die Welt war amorph, hatte keinerlei Struktur. Sie war unendliche formlose Weite. Für den Menschen, der in diese Welt eintrat, gab es nur ein Ziel: Einen Ort zu schaffen. Einen Punkt zu setzen, den ersten Punkt, von dem aus er sich verorten konnte. Indigene Völker haben das alle auf eine andere Weise getan, aber das war immer der Anfang. Den einförmigen Raum durchbrechen und ein Zentrum schaffen.

Da der vormoderne Mensch religiös war, war das Zentrum, das er sich schaffte, ein heiliges. Der Akt dieser Gründung war auch heilig. Er offenbarte sich durch ein Zeichen. Heute würde man sagen, durch Willkür, aber das ist profan gedacht. Die Beschwörung des Zeichens übergab man Tieren. Man verfolgte zum Beispiel ein wildes Tier und errichtete an dem Ort, an dem es erlegt wurde, ein Heiligtum. Oder man ließ ein Haustier frei, einen Stier, suchte ihn nach einigen Tagen und baute an dem Ort, an dem man ihn fand, einen Schrein.

Die Menschen hatten die freie Wahl, sie konnten hingehen, wo sie wollten, aber sie wollten gar nicht wählen. Sie zogen nicht in Erwägung oder hatten keine Freude daran, eine eigene Entscheidung zu treffen. Obwohl ihnen die ganze Welt zur Verfügung stand. Das ist ein moderner Zug, denkt man – aber vielleicht auch ein absolut archaischer. Der archaische Mensch hatte das Glück, nicht modern zu sein. Er musste sich nicht entscheiden. Er hatte den Glauben an etwas Größeres.

Für den modernen Menschen hat die Weite hat so viele Formen angenommen, dass sie wiederum formlos ist. Sie birgt unendliche Möglichkeiten, die ihn auffordern, möglichst viele zu nutzen. Das erschöpft ihn. Er ist müde. Müde in selbstverschuldeter Müdigkeit. Für den archaischen Menschen hat man mehr Verständnis. Man sieht seine Überwältigung. Man käme nicht auf die Idee von Freiheit zu sprechen, in seinem Fall. Von Schuld abgesehen. Geworfen in diese unwirtliche Weite, was sollte er tun? Wo sollte er hingehen, wo beginnen, sich heimisch zu machen? Wie sollte dieser Ort zu finden sein, der ‚richtige Ort‘? Der Mensch hat keine Orientierung. Das ist sein Dilemma. Der archaische Mensch hatte dafür eine Lösung. Dass er sie Tieren auftrug, finde ich eine schöne Idee.

Sie war möglich, weil es noch keine Idee von Willkür gab. Es konnte nicht egal sein, wohin der Stier lief, und es konnte keinen anderen Ort geben als den, an dem man ihn fand. Es quälte nicht, dass er drei Kilometer weiter nach rechts oder links hätte laufen können, und dass das einen Unterschied hätte machen können oder auch nicht. Das Heilige traf die Entscheidung. Es hob die Weite auf und gab einen festen Punkt vor, für den Ort, den ersten Altar, das Zentrum. Darum herum konnte man sich orientieren. Die ersten Orientierungstechniken waren eigentlich Techniken zur Konstruktion von etwas Heiligem. Eines heiligen Raumes. So wurde Chaos zu Kosmos.

Nach einem Mythos der Achilpa, eines Aranda-Stammes, der in Zentralaustralien beheimatet ist, hat Numbakula, der göttliche Stammvater, ihren Lebensraum geschaffen. Er hat aus dem Stamm eines Gummibaums einen heiligen Pfahl gefertigt, mit Blut gesalbt, ist an ihm heraufgeklettert und im Himmel verschwunden. Dieser Pfahl war für die Achilpa die Weltachse. Sie nahmen den Pfahl auf all ihren Wanderungen mit und bestimmten je nach seiner Neigung ihre Wegrichtung. So blieben sie immer in Verbindung mit ihrer Welt, mit dem Himmel und ihrem Schöpfer, Numbakula. Als der Stab einmal zerbrach, brachen die Achilpa in Panik aus. Sie irrten umher und setzten sich schließlich auf den Boden, um zu sterben.

***

Ich habe mich dieses Mal nach Südosten gewendet, zum Schwarzen Meer hin. In Richtung Dobrudscha, Donaudelta. Wie schön das klingt, Delta, Delta Dunării. Am Delta kommt man nicht vorbei, andererseits hält es einen fast davon ab, wenn alle sagen: Du musst unbedingt ins Delta! Ai fost? Das Delta ist ein von drei Armen der Donau durchzogenes Sumpfgebiet. Auf ihrem Weg zum Meer verzweigen sich die Arme in unzählige schmale Kanäle, die in Seen münden und dann wieder in Kanäle. Ein riesiges Gebiet, kaum besiedelt, außer von seltenen Vögeln, ihretwegen kommen die meisten Touristen. Wegen der Pelikane vor allem. Oder zum Angeln.

Der Himmel auf den Bildern ist rosafarben und lila. Es gibt einen Ort, der Lila See heißt, auf Türkisch, wegen des Lichts, das ihn in den Abendstunden färbt. Murighiol. Orte, deren Namen eine Bedeutung haben, sind interessanter als die, deren Namen nichts bedeuten. Bei booking.com suche ich ein Hotel in Murighiol. Das Hotel soll einfach sein, wie die Behausungen der Fischer, die im Delta leben, eine Pension eher, einfach aber geschmackvoll, möglichst mit WLAN. Es soll ruhig gelegen sein und einzeln, aber so, dass es nicht weit ist bis zu einem größeren Ort, an dem es ein Café gibt vielleicht. Ich buche Delta Paradis. Ein Kompromiss, Reetdach-Häuser direkt am Wasser, ein bisschen zu komfortabel.

In Murighiol kennt das Hotel niemand. Ein Mann, den ich frage, fährt mich lange umher und bleibt dann vor einem abgelegenen Hotelkomplex stehen. Delta Resort. Delta Paradis gibt es nicht. Er ist ratlos. Er ruft einen Freund an, der weiß, Delta Paradis ist nur mit dem Boot erreichbar. Das stand nicht auf booking.com. Der Mann fährt mich zu einem anderen Hotel, an dem ich am Abend abgeholt werde, mit einem Schnellboot.

Wir fahren durch den Kanal Dunavat. Das Boot scheucht die Vögel auf, die sich vor uns erheben und mit breiten Flügeln schlagen, erst rudernd, dann leicht in der Luft.

Nach zwanzig Minuten sind wir da. Die Reetdach-Häuser stehen auf einer Erhebung zwischen zwei Kanälen, einer Art Insel. Sie ist etwa achtzig Meter lang und zwölf Meter breit. Vor und hinter den Häusern sind es nur ein paar Meter bis zum Wasser. Es gibt einen gepflasterten Weg um die Häuser und gestutzte Vorgärten mit Rosenstöcken. Eine schwebende kleine Gartenkolonie, inmitten von Schilf, Schilf soweit man schauen kann.

Am ersten Abend bin ich der einzige Gast, es ist Vorsaison. Die Getränkeautomaten sind noch nicht eingeräumt. Es gibt nichts zu kaufen, und ich habe nichts mitgebracht. Der Bootsjunge fährt noch einmal los, er ist Anfang Zwanzig und hat Spaß an seiner Aufgabe. Die Geschwindigkeit, der Motor, das Lehnen im Fahrtwind, eine Hand am Steuer. Abends ist es still. Ich stelle mein Notebook aufs Bett. Der heilige Stab, den wir immer mitnehmen und mit dem wir die Verbindung halten, zur Welt, zum Himmel nicht.

Tagsüber sitze ich auf dem Steg hinter dem Haus. Auf dem Steg stehen vier grüne Plastikstühle in gleichem Abstand voneinander. Sie sind so angeschraubt. Neben mir sitzen drei Männer aus Moldawien, die neu angekommen sind, in Tarnkleidung, und angeln. Ich sitze dort stundenlang, während sie sich irgendwann ein Boot nehmen und den Kanal hochfahren. Das Wasser hat die Farbe des Himmels. Man sieht darin Wolken, Gräser und Bäume, verkehrt herum. Die Vögel im Himmel. Ab und zu kommen winzige Seeschlangen vorbei, den Kopf über das Wasser erhoben, den Körper hin und her schlängelnd. Einmal erscheint ein Otter.

Delta_1

Am Abend färbt sich der Himmel, rosa, dunkelblau, fast lila, und ich schaue auf das Wasser und den Himmel, bis nichts mehr zu sehen ist.

Es gibt nichts anderes zu tun. Ich bin drei Tage am Kanal Dunavat. Den Lila See sehe ich nicht, er ist zu weit weg. Mit dem Boot könnte man eine Tour machen, aber das ist teuer, und ich habe zu wenig Geld dabei. Einmal nimmt mich der Bootsjunge mit. An einer Stelle macht er den Motor aus und zeigt auf Vögel. Lebădă – Schwan, Cormorani – Kormorane und etwas Drittes, dessen Namen und Aussehen ich vergessen habe.

Es ist nicht wichtig. Alle Vorstellungen, die man sich von einem Ort macht, stören. Sie geben einem das Gefühl, es gäbe etwas Bestimmtes zu sehen. Aber was soll das sein? Wer legt das fest? Man sollte sich sagen, dass man wie der Stier niemals an einen falschen Ort gelangen kann. Man hätte weiter fahren können oder vorher anhalten, man hätte eine andere Wahl treffen können. Aber der Ort, an dem man ist, ist immer richtig. Er ist das Zentrum.

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