Jibert

Und wieder so ein Tag. Zwei Stationen, die erste in Seiburg/ Jibert: Ich will Herrn Albrich treffen. Er ist noch im oder beim Mais, so sagt seine Frau, also warte ich und schaue mir das Dorf an. Seiburg hat es schlimm getroffen, über die Hälfte der Häuser leer, von einigen stehen nur noch die Grundmauern und die Fenster. Es gibt auch einen Spielplatz und eine renovierte Schule mit frisch eingesetzten Termopanfenstern. Aber die Ruinen sind in den Straßen, in denen Haus an Haus steht, wie faule Zähne. Auf sie schaut man. Und doch wirkt das Faule weniger wie ein Fremdkörper als die neuen Häuser mit ihre grellroten oder -blauen Blechdächern. Aber vielleicht scheint mir das auch nur so, weil ich den Verfall jetzt schon gewohnt bin.

Herr Albrich trägt einen Hut mit Gamsbart und darunter ein landwirtschaftlich wettergegerbtes gutaussehendes Mittvierziger-Gesicht. Er ist kräftig und hat riesige Hände mit einem schwarzgequetschten Fingernagel (wie alle Männer auf dem Land, die ich besuche), bestimmt hatte er Schlag bei den Frauen. Mir, der Städterin, gegenüber ist er verlegen. Nach den wenigen Worten, die er hat, muss er lange suchen. Seine Frau ist Rumänin, wahrscheinlich redet er nur noch selten Deutsch. Beim Erklären fehlen ihm die Begriffe, was ihn ärgert. Was kommt beim Holz heraus, wenn man hackt, fragt er. Späne sage ich. Späne sagt er und schüttelt den Kopf. Im Grunde ist nach zwei Minuten alles gesagt. Die Gebräuche waren, sie waren, wie wir einmal hatten die Gebräuche, schön, aber jetzt nicht mehr, nach dem neunundachtziger haben wir nicht, mit wem wir sollen machen. Seine Sätze sind wie google-Überetzungen aus dem Rumänischen.

Herr Albrich im heute unbewohnten Pfarrhaus von Seiburg/ Jibert

Der Kaffee, den Herr Albrich anbietet, schmeckt intensiv nach Schaf. Herr Albrich hat über 100 Schafe, ihr Geruch hängt auch an ihm, aber es ist nicht unangenehm. Schafe, Kühe und Schweine, gerade letzte Woche hat er eins geschlachtet, was die Sachsen traditionell nur einmal im Jahr vor Weihnachten taten. Ah heut ist es, wie man will, sagt Herr Albrich. Die Nachbarschaft hat das unzeitgemäße Schlachten früher mit Strafe geahndet, der Kommunismus hatte es sowieso verboten, jetzt kann er Fleisch essen, wann und wie oft er will. Wen soll es jetzt noch stören? Das hat der neunundachtziger ihm gebracht. Seine Eltern und alle Geschwister sind nach Deutschland gegangen. Sie haben ihm aber ihren Boden hinterlassen, damit kommt er heute auf 10 Hektar.

Ich bin am Ende so verlegen wie er. Der Wellensittich im Käfig auf dem Fensterbrett, der mich schon ein bisschen erstaunt, ist nicht halb so deplatziert wie ich. Was erwarte ich eigentlich von meinen Besuchen. Das sind Menschen, die seit Jahrzehnten auf den Feldern schuften, für sie gehörte das dazu, die Bräuche, das war nichts, was man beschreiben musste. Ich schäme mich für meine Fragen, meine Stiefel, mein Deodorant. Zum Abschied bekomme ich zwei Kilo tiefgefrorenen Schafskäse in die Hand gedrückt. Und seine riesige Hand. Dann umarmt er mich schnell und unbeholfen und dreht seinen Hut auf dem Kopf einmal herum. Vielleicht kommen Sie irgendwann wieder einmal nach Seiburg, sagt er. Ja, vielleicht, lüge ich.

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Über Julia Jürgens

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Eine Antwort zu Jibert

  1. Tobias schreibt:

    großartig!

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